Solang die Welt noch schläft (German Edition)
bedeutungsschwangerer Stimme. Dann tippte sie Adrian leicht an den Arm. »Liebling, wärst du so nett und würdest mein Velo zum Start schieben? Ich komme gleich nach.«
Kaum war Adrian ein paar Schritte entfernt, raunte Isabelle ihren Eltern zu: »Kein Wort über Josefines Vergangenheit! Wenn mein Verlobter erfährt, dass in unserer Nachbarschaft Leute mit kriminellem Hintergrund wohnen und ich auch noch Umgang mit ihnen pflege, bezweifle ich, dass er weiter Interesse an einer Verbindung mit mir hat.«
Sie labte sich noch einen Moment lang an den erschrockenen Mienen ihrer Eltern, dann trabte sie zufrieden davon. Von diesen beiden brauchte Josefine keine schändlichen Reden zu fürchten, so viel stand fest.
»Hast du das gesehen? Eine nackte Wade …« Mit spitzem Zeigefinger wies eine Frau mittleren Alters auf die Rennbahn, wo sich die Fahrerinnen, die das Hauptrennen bestreiten sollten, allmählich sammelten.
»Und bei der da drüben siehst du sogar das Knie!«, sagte eine zweite, etwas jüngere Frau. Beide lachten hysterisch. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten erwartungsvoll, als sie auf Zehenspitzen stehend ihre Hälse in die Höhe reckten, um den bestmöglichen Blick auf das zu erwartende Spektakel zu erhaschen.
Bestimmt waren die Frauen Fabrikarbeiterinnen wie sie selbst, vermutete Josefine. Zumindest ließen der billige Stoff ihrer Rüschenröcke, ihre fahle Haut, die offenbar nur selten Tageslicht sah, und ihre Hände, rissig von der Arbeit mit schweren Maschinen, darauf schließen.
Es war ein buntgemischtes Völkchen, das sich als Zaungäste zum Großen Rennen des 1. Berliner Velovereins für Damen eingefunden hatte: Arbeiter wie die beiden Frauen, aber auch feine Bürger – vielleicht Rechtsanwälte, Doktoren und Professoren, Kontoristen und Geschäftsleute – in ebenso feinem Zwirn. Ein paar Handwerker und ihre Ehefrauen, die sich in ihrem Sonntagsstaat nicht sonderlich wohl zu fühlen schienen, hatten sich ebenfalls eingefunden, dazu eine Handvoll einfacher Mägde und Burschen. Die Crème de la Crème der Gesellschaft befand sich nicht in der Menge – für sie war ein separater, überdachter Zuschauerbereich reserviert worden.
Dass der Andrang bei einem Damenrennen dermaßen groß sein würde, hätte Josefine nie und nimmer gedacht. Als sie eine Stunde vor dem offiziellen Rennbeginn am Vereinsgelände eingetroffen war, hatten die zwei Damen, die Eintrittskarten verkauften, just begonnen, ihren Stand wieder abzubauen.
»Wegen Überfüllung geschlossen«, hatte die eine lapidar gesagt und wollte sich nicht erweichen lassen, Jo doch noch einzulassen. Erst als Jo Isabelles Namen ins Spiel gebracht hatte –
Josefine schreckte zusammen, als im nächsten Moment neben ihr ein Zischen ertönte.
»Der Unterrock, schau mal auf den Unterrock! Blütenweiß und so fein gestärkt, als gehörte er zu einem Hochzeitskleid. So einen hätte ich auch gern …« Die Frau seufzte tief auf.
»Und damit will die Dame Velo fahren?«, sagte die andere mit neidischem Unterton.
» Dame würde ich die da nicht gerade nennen. Mir liegen ganz andere Bezeichnungen für solche Xanthippen auf der Zunge«, sagte ein Mann, der sich von hinten durch die Menge der Zuschauer gedrängelt hatte. Er hatte eine Kappe auf, wie Botenjungen sie gern trugen, und einen nicht sauber gestutzten Bart. Rücksichtslos bohrte sich einer seiner Ellenbogen in Josefines Seite, auf dass sie ihm Platz machen sollte. Sie jedoch blieb stoisch stehen – nicht mit mir, Bürschchen!, sagte ihr Blick. Er zog eine unfreundliche Grimasse, dann verteilte er die Leberwurstsemmeln, die er mühevoll durch die Menge balanciert hatte, an die beiden Frauen. Der würzige Geruch erinnerte Josefine daran, dass sie außer ihrem kargen Frühstück noch nichts gegessen hatte. Mittagessen oder Eintrittskarte – sie hatte wählen müssen. Beides gab ihre magere Kasse nicht her. Sie biss die Zähne zusammen und ignorierte ihr lautes Magenknurren.
Die ältere der beiden Frauen biss so ungeschickt in ihre Semmel, dass ein Teil der Leberwurst sogleich seitlich herausfiel. Fluchend wollte sie sich bücken und die staubige Wurst wieder aufheben, als der Mann zu ihr sagte: »Lass liegen! Sobald die erste Fahrerin im Dreck liegt, gehe ich und kauf dir ’ne neue Stulle. Das ist mir das Vergnügen wert.«
»Und wenn’s eine zweite von ihrem Velo runterhaut, krieg ich dann auch noch ’ne Stulle?«, fragte die jüngere Frau, woraufhin alle drei
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