Solang die Welt noch schläft (German Edition)
hätte sie nur die Hälfte verstanden. Worum ging es hier in Wahrheit? Zählte heutzutage wirklich nur noch der Sieg? Warum sprach niemand von der Freude am Fahren?
Huldvoll wie eine Königin nahm Isabelle nach dem Rennen die Glückwünsche ihrer Freunde und auch die ihrer Gegnerinnen entgegen, während Moritz Herrenhus mit stolzgeschwellter Brust danebenstand. Die Zweitschnellste – es war ausgerechnet Irene, die so gegen Jo gewettert hatte – stand mit ihrer Familie nur wenige Schritte entfernt. Immer wieder wanderte jemand aus der einen Gruppe zur anderen, um ein paar Worte zu wechseln – alle schienen sich gut zu kennen.
Isabelles Vater hatte sich kaum verändert, lediglich der Zug um sein Kinn war noch eine Spur aggressiver geworden, dachte Jo, die ein gutes Stück abseitsstand. Warum war ihr früher nie aufgefallen, auf welch unangenehme Art er die Menschen um sich herum prüfend mit den Augen abtastete?, fragte sie sich. Seine Frau, Jeanette Herrenhus, die ein Champagnerglas in der Luft schwenkte, sah aus wie einst – schön, gelangweilt, irgendwie belanglos. Verflixt, dass sie hier auf Isabelles Eltern treffen würde, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Auf eine Begegnung mit dem Mann, der sie hinter Gitter gebracht hatte, konnte sie wirklich verzichten!
Josefine hatte sich schon zum Gehen umgewandt, als jemand laut ihren Namen rief. Isabelle. Mit wenigen Schritten war die alte Freundin bei ihr und sagte atemlos: »Willst du etwa schon gehen? Nichts da, du musst unbedingt meine Freunde kennenlernen! Und zu meiner Siegesfeier kommst du auch mit.« Schon hakte sie sich bei Josefine ein. »Keine Sorge, meine Eltern werden nichts sagen«, raunte sie, ohne dabei ihr strahlendes Siegerlächeln auch nur für eine Sekunde abzulegen. Bei ihren Freunden angekommen, schob Isabelle Josefine nach vorn.
»Darf ich vorstellen – Josefine Schmied, eine sehr versierte Velozipedistin! Sie möchte gern in unseren Verein eintreten. Mutter, Vater – ihr und Jo kennt euch ja bereits.«
Moritz Herrenhus nickte ihr eisig zu, seine Frau regte sich gar nicht. Die anderen in der Runde murmelten eine kurze, nicht sonderlich interessierte Begrüßung.
Isabelle machte einen Schritt auf die zweite Gruppe um Irene zu. Sie zupfte einen jungen Mann kurz am Ärmel, woraufhin dieser sich zu ihr umdrehte.
»Und das hier ist Adrian Neumann, mein Verlobter.«
» Das ist dein Verlobter?«, entfuhr es Josefine, bevor sie etwas dagegen tun konnte. Als habe ihr jemand einen dumpfen Schlag in den Magen verpasst, wich sie zurück.
Im selben Moment streckte der blonde Bursche ihr seine rechte Hand entgegen und sagte: »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Isabelle hat schon viel von Ihnen erzählt.«
Josefine war zu keiner Antwort fähig. Ihre Hand zitterte, wie von einem Stromschlag getroffen riss sie sie nach kurzem Händeschütteln zurück.
Ausgerechnet er …
Isabelle runzelte die Stirn, dann sagte sie: »Möchtest du eine Runde mit meinem Velo drehen? Du könntest es für mich in den Fahrradstall fahren.« Schon hielt sie Jo ihren Rover entgegen.
Josefine verneinte kopfschüttelnd mit dem Hinweis, dass sie nicht passend angezogen sei.
Isabelle runzelte ein zweites Mal die Stirn, dann drückte sie Adrian ihr Velo in die Hand. »Wenn du so freundlich wärst … Wir brechen inzwischen schon einmal zur Feier auf. Velofahren macht schrecklich hungrig, findet ihr nicht auch? Und das eine Glas Champagner hat meinen Durst auch noch nicht gestillt.« Lachend und scherzend machte sich die Gruppe auf den Weg in die Vereinsgaststätte.
Josefine trottete hinterher.
Moritz Herrenhus hatte in der festen Annahme, dass Isabelle das Rennen gewinnen würde, gleich das ganze Vereinslokal reserviert. An acht mit weißem Damast und feinem Silber gedeckten Tischen ließen sich Gäste, Freunde und Geschäftspartner der Familie zu einem Festessen nieder.
Josefine hatte einen Platz an einem Tisch in der Nähe der Tür zugewiesen bekommen. Als Herrenhus seine Tischrede beendet hatte und noch bevor die Suppe aufgetragen wurde, stellte man sich gegenseitig vor. Zur Rechten Josefines saß ein Journalist, der bei einer der größten Tageszeitungen Berlins beschäftigt war und als einer der wenigen Zeitungsschreiber dem Damen-Radsport wohlgesinnt gegenüberstand. Seiner Ansicht nach gaben weibliche Radfahrer einen sehr anmutigen Anblick ab – ginge es nach ihm, würden noch viel mehr mutige Amazonen dem Radsport frönen!, tönte er laut,
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