Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Ohne ihn? Ohne seine Einwilligung? Ja, sogar im Wissen, dass er diese … Schweinerei zutiefst missbilligte?
Sie hatte gelacht, hatte ihm die Einladung aus der Hand nehmen und fortwerfen wollen. Warum hatte sie das nicht schon längst getan?, ärgerte sie sich stumm. Eine Unachtsamkeit. Gerhard hatte recht, wenn er behauptete, sie sei in vielen Dingen zu nachlässig.
Mit Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand rieb sich Clara ihr blau angelaufenes rechtes Handgelenk, wo er sie so grob gepackt hatte, dass sie laut aufschrie. Die Einladung hatte er ihr aus der Hand gerissen, in tausend kleine Stücke zerfetzt und vor ihr auf den Boden geworfen. Und dann – Clara schloss die Augen. Nicht daran denken. Bestimmt tat es ihm längst leid.
»Damit du siehst, was ich von diesem Blödsinn halte!«, hatte er ihr entgegengeschleudert. Ohne ein weiteres Wort hatte er das Haus verlassen und war bis jetzt nicht zurückgekommen.
Wo er wohl war? Ob er Hunger hatte, wenn er zurückkam? Oder war er ohne sie essen gegangen? Unschlüssig, ob sie ihm etwas besonders Gutes kochen sollte oder nicht, ging Clara an ihren Verbandschrank, um eine kühlende Salbe für ihr Handgelenk zu holen.
Ihr Blick fiel auf das Fach oberhalb der Hausarzneien. Fast zärtlich strich sie über den dicken Stapel Bücher, den sie dort hineingestopft hatte.
Handbuch der modernen Pharmakologie, Toxische Erkrankungen der Haut und ihre Behandlung, Die Sepsis – es war schon lange her, dass sie einen Blick in eines der Bücher geworfen hatte.
Niedergeschlagen rieb sie die Heilsalbe auf ihr lädiertes Handgelenk. Auf die rote Stelle an ihrer rechten Wange tupfte sie ebenfalls ein wenig Salbe.
21. Kapitel
Anfang Mai geschahen zwei Dinge, die Josefines Leben von einem Tag auf den anderen völlig umkrempelten.
Als sie am Ende der ersten Maiwoche nach ihrer Schicht erschöpft an Geist und Körper in den Schlafsaal gehen wollte, hielt die Kontoristin sie auf und überreichte ihr zwei Briefe. Einer war von Isabelle, in dem sie ihr freudig mitteilte, dass die anderen Mitglieder Josefines Aufnahme in den Verein zugestimmt hatten. Plötzlich ging das einfach so? Sie besaß doch noch immer kein eigenes Velo. Sie war noch immer nur eine einfache Arbeiterin. Jo stieß einen dermaßen lauten Jubelschrei aus, dass die Kontoristin zusammenschreckte. So schnell wie möglich wollte sie den Verein besuchen!
Beim Anblick des zweiten Briefs hingegen fuhr es Josefine selbst durch Mark und Bein, denn er sah ziemlich offiziell aus. Notariat Langbein und Kompagnon, Dieffenbachstraße 11. Josefine kannte die Adresse, es war ein großes cremefarbenes Patrizierhaus am Rande der Luisenstadt. Fahrig öffnete sie den steifen Umschlag mit dem Nagel ihres Zeigefingers. Die Kontoristin reckte ihren Hals so lang, als wollte sie einer Gans Konkurrenz machen. Unwirsch marschierte Josefine davon.
Sie setzte sich auf den obersten Treppenabsatz, kurz vor dem Schlafsaal. Beim Lesen wurden ihre Augen immer größer. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten?
Über den goldenen Rand seiner Brille schaute der Notar Josefine stirnrunzelnd an. »Ganz ehrlich, junge Frau, auf die nächste Passage des Testaments kann ich persönlich mir keinen Reim machen. Aber hören Sie doch selbst.
› Liebe Josefine, du bist für mich stets die Tochter gewesen, die ich nie haben durfte. Dass ich dich im Stich gelassen habe, als du mich am dringendsten benötigt hast, werde ich mir wohl nie verzeihen. Liebes Kind, ich kann nur hoffen, dass deine unseligen Erfahrungen dich nicht gebrochen, sondern noch stärker gemacht haben, als du es eh schon warst.‹«
Friedas Neffe Joachim Roth warf Josefine von der Seite einen schrägen Blick zu.
Stoisch schaute sie geradeaus. Es war Friedas Letzter Wille, dass sie hier in dieser düsteren Kanzlei saß.
»Dass wir uns ausgerechnet hier wiedersehen«, hatte Lilos Vater zur Begrüßung gesagt, jedoch keine Freude über dieses Wiedersehen geäußert. Josefines Fragen nach Lilos Wohlbefinden hatte er nur wortkarg beantwortet. Danach hatten sie beide stumm in dem holzgetäfelten Vorzimmer gesessen, bis der Notar sie endlich zu sich hereinrief.
»Ob es eine Wiedergutmachung für meine Versäumnisse geben kann, weiß ich nicht. Doch einen großen Herzenswunsch habe ich über den Tod hinaus und bin in der glücklichen Lage, ihn mir erfüllen zu können …« Der Notar machte eine kleine Kunstpause. Umständlich blätterte er das mehrseitige Testament um, auf dessen
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