Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Waren zu transportieren. Ein eisernes Maultier sozusagen.«
Sie lachten erneut.
Adrian fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr.
»Ich finde deine Ideen großartig«, sagte Josefine, und ihr Tonfall war voller Bewunderung. »Warum gehst du nicht einfach zu deinem Vater und erzählst ihm davon? Als Unternehmer müsste er die Chancen, von denen du gesprochen hast, doch sofort erkennen. Dann könnte er dich unterstützen und dir einen guten Start ermöglichen.« Auf ihrem Gesicht zeigte sich eine verträumte Miene, die gleichzeitig etwas sehr Bestimmtes hatte – Adrian konnte sich kaum sattsehen an ihrem regen Mienenspiel. So wie er sich auch an ihren Worten kaum satthören konnte.
»Vielleicht stellt ihr bald selbst solche günstigen Velos her? Dann bin ich eure erste Kundin, das verspreche ich dir!« Lächelnd hielt Josefine ihm ihre rechte Hand hin, und er schlug ein, als hätten sie einen Handel abgeschlossen.
Es war schon nach vier Uhr, als sie sich trennten. Bestimmt würden sie sich im Verein bald wieder einmal über den Weg laufen, sagte Adrian. Er war überzeugt davon, dass einer Mitgliedschaft Josefines letztendlich nichts im Wege stünde.
Josefines Herz spielte ein wenig Fangen mit ihrem Magen, als sie mit beschwingtem Schritt in Richtung Feuerland marschierte. Das Gespräch mit Adrian hatte sie aufgewühlt. Was war das für ein Mann! Solche Visionen zu haben! Und welche Gedanken er sich über das Leben anderer Menschen machte. Wie kam es eigentlich, dass sich der Sohn eines Großunternehmers überhaupt Gedanken über Fabrikarbeiter und Dienstmägde machte? Josefine nahm sich vor, ihn das bei nächster Gelegenheit zu fragen.
Das Velo als Fortbewegungsmittel für alle – wie revolutionär! Dagegen erschienen ihr ihre eigenen Pläne nichtig und belanglos. Aber vielleicht musste man so wohlhabend und sorgenfrei sein wie Adrian, um hochtrabende Pläne haben zu können. Ihre bisherigen Erfahrungen hatten ihr lediglich gezeigt, dass das Leben ein ewiger Kampf war. Dass man das Leben Tag für Tag bei den Hörnern packen musste wie einen angriffslustigen Stier. Hochmut brachte einen sehr schnell zu Fall – auch das war ihre ureigene Erfahrung.
Was für ein Tag! Das Damenrennen. Die Begegnung mit Isabelles Eltern. Adrian …
Seltsam, über Isabelle, seine Verlobte, hatte er kein einziges Wort verlauten lassen. Überhaupt – warum war er nicht bei ihr und ihren Gästen geblieben? Was hatte das zu bedeuten?
Obwohl sie seit den frühen Morgenstunden unterwegs war, verspürte Josefine kein bisschen Müdigkeit. Der Gedanke an den unfreundlichen Schlafsaal und die düstere Gemeinschaftsküche war ihr auf einmal unerträglich. Was sollte sie dort? Sich schlafen legen? Unmöglich. Den anderen bei ihren Streitereien zuhören? Ebenfalls unmöglich.
Es reichte, wenn sie kurz vor dem Schlafengehen dort eintraf, beschloss sie. Jetzt aber musste sie dringend mit jemandem über ihre aufgewühlten Gefühle sprechen. Und sie wusste auch schon genau, wer dieser Jemand war. Durch einen Besuch bei Clara konnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: von ihrem aufregenden Tag erzählen und außerdem Claras neues Heim bewundern.
Frohen Mutes machte sie kehrt.
Nach einer guten Stunde Fußmarsch kam sie mit wunden Füßen, durstig und müde vor Claras Haus an. Eine Tasse Tee und etwas Gebäck kämen jetzt sehr gelegen, dachte sie und drückte den Klingelknopf. Nach einer Minute Warten drückte sie ihn erneut. Nichts geschah. Stirnrunzelnd schaute Josefine zu den Fenstern. Seltsam, es brannte doch Licht. Warum öffnete dann niemand? Nachdem sie eine weitere Minute von einem Bein aufs andere getreten war, ging sie enttäuscht davon.
Traurig sah Clara ihre Freundin die Straße entlanggehen. Einen Moment lang wäre sie fast schwach geworden, wäre die Treppe hinuntergerannt und hätte Jo geöffnet. Doch es war besser so. Wenn Gerhard heimkam und Besuch vorfand … Und dann ausgerechnet Josefine! Das hätte ihn nur noch weiter verärgert.
Gedankenverloren zupfte Clara die blütenweiße Schlafzimmergardine zurecht, dann setzte sie sich mit hängenden Schultern auf die Bettkante.
Am Morgen war alles noch in bester Ordnung gewesen. Gerhard und sie hatten ihr sonntägliches Frühstück genossen und darüber spekuliert, wann der erste Kranke ihre Sonntagsruhe stören würde. Dann hatte Gerhard Isabelles Einladung zu dem Damenrennen auf der Konsole liegen gesehen. Ob sie etwa vorhabe, dorthin zu gehen? Heimlich?
Weitere Kostenlose Bücher