Solang die Welt noch schläft (German Edition)
noch werden.
In den letzten Wochen, eigentlich schon seit dem letzten Herbst, hatte sie immer stärker das Gefühl gehabt, dass etwas in Adrian gärte. Dass er mit sich kämpfte, nach einem Weg aus der Misere suchte. Vielleicht sogar nach einer Lösung, die ihm den Weg zu ihr frei machte? Josefine betete täglich zum lieben Gott, dass ihre Ahnung richtig war und Adrian sich ihr bald offenbarte. Sie bezweifelte allerdings, dass das heute Abend der Fall sein würde.
Zum Saisonbeginn würde es ein Festessen geben, Reden sollten gehalten werden, man wollte die geplanten Rennen fürs neue Radsportjahr besprechen. Nach dem Essen würde sogar eine Gruppe Musiker zum Tanz aufspielen! Es war Josefine schwergefallen, dennoch hatte sie vor zwei Wochen Isabelle gefragt, ob sie ihr ein oder zwei einfache Tänze beibringen könne. Isabelle hatte sofort eingewilligt. Zwei Tage später war sie bei Jo erschienen, mit ihrem Grammophon unterm Arm. Unter viel Gelächter hatten sie dann einen Wiener Walzer und einen Rheinländer im Zweivierteltakt geübt – der Hopser, der dabei gemacht wurde, hatte es Josefine besonders angetan.
Die kleine Steigung war überwunden, die Berliner Straßen waren wieder eben. Josefine trat kräftiger in die Pedale. Vielleicht würde Adrian sie zum Tanz auffordern? Unter Vereinskameraden war so etwas durchaus möglich, oder etwa nicht?
Sie hörte die Entsetzensrufe und die wütenden Aufschreie schon von draußen. Kaum hatte Josefine die Tür aufgestoßen, wurde der Lärm noch größer.
»Was für eine Schweinerei!«
»Das gibt’s doch nicht. Das ist Rufmord, eine Hetzkampagne!«
»Ganze zehn Zeitungsseiten, das muss man sich mal vorstellen!«
»O nein, hört euch das mal an …«
Statt sich mit perlendem Sekt gegenseitig zuzuprosten, so wie sie es vorgehabt hatten, saßen die Frauen und auch einige der Männer über aufgeschlagenen Zeitungen und lasen sich gegenseitig daraus vor.
»Hört zu: ›Bleichsucht und Neurasthenie – die neuen Modeerkrankungen der Frau, hervorgerufen durch die Unsitte des weiblichen Velofahrens! – geschrieben von einem Doktor Köppke«, las Melissa, die Tochter eines pharmazeutischen Unternehmers, laut. »Was bildet der sich ein?«
Kopfschüttelnd tippte Luise Karrer auf die vor ihr liegende Zeitung. »Und hier behauptet einer, Sport mache unfruchtbar – die starken Erschütterungen beim Velofahren würden die weiblichen Fortpflanzungsorgane schädigen. Ich frage mich wirklich, wie ich zu meinen vier Kindern gekommen bin!«
»Die hat doch der Klapperstorch gebracht, weißt du das nicht?«, sagte einer der jüngeren Burschen, die ebenfalls am Tisch saßen. Im Gegensatz zu den Frauen wirkten sie eher amüsiert als verärgert.
»Was ist denn hier los?« Stirnrunzelnd ließ sich Josefine neben Isabelle nieder und zeigte auf die gedeckte Tafel, die gleichzeitig übersät war mit Zeitungen. Unauffällig ließ sie dann ihren Blick durch den Raum schweifen. Adrian saß an einem der hinteren Tische, zusammen mit dem Ehemann von Chloé. Sie nickten sich kurz zu, doch im nächsten Moment wurde Josefines Aufmerksamkeit von Isabelle in Anspruch genommen, die laut aufschrie: »Das gibt’s doch nicht! Dieser Artikel hier ist von einem gewissen Doktor Gerhard Gropius!«
»Das ist doch Claras Ehemann«, sagte Josefine und riss Isabelle die Zeitung aus der Hand.
Josefine schaute auf. »Undamenhaftes Gehabe – dass es noch immer Männer gibt, die unseren Sport so verunglimpfen, ist zwar traurig, aber doch kein Grund, sich derart aufzuregen!«
»Dann lies mal weiter«, sagte Luise Karrer, die ihr gegenübersaß.
Empört schaute Josefine auf. »Was ist denn das für ein Blödsinn?« Claras Mann war ihr auf den ersten Blick unsympathisch gewesen – allem Anschein nach hatte ihr Instinkt sie nicht getrogen.
Luise Karrer lachte auf. »Du hast die anderen Artikel noch nicht gelesen. Der da ist noch einer der harmloseren Art.«
»Aber was … Wie kommt es, dass …« Ratlos zeigte Jo auf die aufgeschlagenen Zeitungsseiten.
»Die Zeitung nennt es eine ›Sonderbeilage‹«, erklärte Luise ironisch. »Ganze zehn Extraseiten in der Mitte der Zeitung, gefüllt mit Aufsätzen von Doktoren und Professoren aus dem gesamten Kaiserreich. Die Herren Mediziner müssen über Monate miteinander korrespondiert haben, um eine solche Hetzkampagne auf die Beine zu stellen.«
»Mir ist völlig klar, was sie damit bezwecken wollen«, sagte Gertrude, eine ältere Lehrerin, die schon vor
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