Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Jahren zum Velofahren gekommen war und sich stets vehement für die Rechte der Frauen einsetzte. »Sie wollen uns in unserer Freiheit beschneiden! Sie wollen, dass wir zu Hause sitzen und auf unsere Ehemänner warten, statt durch die Stadt zu radeln.« Als wollte sie ihre Aussage noch bekräftigen, tippte sie auf einen Artikel vor sich. »Hört euch das doch nur an: ›Dass auch Damen ein gewisses Bedürfnis nach Bewegung verspüren, ist unumstritten. Doch wie viel besser wäre es, wenn sie das Spinnrad oder die Nähmaschine treten würden statt die elenden Pedale eines Velozipeds.‹«
»Das Spinnrad sollen wir treten? Glaubt der Mann, wir leben noch im Mittelalter?«, erhitzte sich Chloé und winkte die Bedienung, die hinter sie getreten war, ungeduldig fort. Ihr und den meisten anderen war der Appetit gründlich vergangen.
»Unglaublich!« Josefine schüttelte den Kopf. »Was sagst du denn dazu?«, wandte sie sich an Isabelle, die mit einem stillen Lächeln auf den Lippen dasaß. »Sag bloß, du findest das komisch?«
Isabelle lächelte weiter. »Nein, nein, ich bin genauso entsetzt wie ihr. Aber …« Sie zog Jo näher zu sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Heute ist ein schöner Tag. Ich habe eine sehr, sehr gute Nachricht bekommen.« Ihr Blick war so vielsagend wie geheimnisvoll.
»Gleich habt ihr zwei noch mehr zu tuscheln«, sagte Fadi Nandou. »Der schlimmste Artikel von allen steht nämlich ganz am Schluss. Er stammt von einem Braunschweiger Arzt. Er schreibt: ›Nach unzähligen Untersuchungen, Beobachtungen, wissenschaftlichen Erhebungen und aufgrund meiner großen Menschenkenntnis steht für mich ohne Zweifel fest, dass viele Damen das Velofahren für masturbatorische Zwecke nutzen.‹«
Man hörte, wie vielfach erschrocken und empört der Atem eingesogen wurde. Im hinteren Teil des Raumes ertönte das Lachen einzelner Männer.
Jo stutzte. Masturbatorisch – was war das? Sie nahm Fadi die Seiten aus der Hand und las weiter.
Josefine spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Es konnte doch niemand glauben, dass sie während des Radfahrens … dass irgendeine andere Frau … Wie erniedrigend. Und impertinent!
»Genug ist genug! Auf diese infame Art lassen wir uns nicht verunglimpfen«, sagte Luise Karrer und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass die Weingläser klirrten. »Papier und Feder bitte, wir schreiben einen Gegenartikel, aber einen gepfefferten!«
Der Wirt, der das Vereinsheim betrieb, trat an den Tisch und räusperte sich. »Jetzt wird jar nüscht jeschrieben! Die Suppe is fertig, und se kommt nu uff den Tisch, und wenn ihr n Handstand macht!«
Niemand schenkte dem vorzüglichen Essen große Aufmerksamkeit. Stattdessen rankte sich das Tischgespräch nur um die unglaubliche Sammlung von Aufsätzen, Artikeln und Schmähschriften gegen das Velofahren. Dass eine Berliner Zeitung so etwas überhaupt gedruckt hatte, machte die Frauen fassungslos. Alle waren davon ausgegangen, dass sich die Zeiten inzwischen geändert hatten. Dass sie die Zeiten geändert hatten …
Während sich Jo an dem aufgeregten Gespräch beteiligte, saß Isabelle weiterhin mit einem seligen Lächeln da. Mehr als einmal warf Josefine ihr einen schrägen Seitenblick zu. Was war nur in die Freundin gefahren?
Der Nachtisch wurde aufgetragen, als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Adrian von seinem Platz aufstand. An der Tür machte er Josefine ein unauffälliges Zeichen, ihm nach draußen zu folgen.
Mit zitternden Händen legte Jo ihre Serviette auf den Tisch, murmelte eine Entschuldigung und verschwand so rasch wie möglich.
Adrian schlug vor, ein Stück spazieren zu gehen. Josefine war das nur recht, ein bisschen frische Luft nach der ganzen Aufregung konnte nicht schaden.
Im Schein der Gaslaternen lagen die Straßen still und friedlich vor ihnen, nur hie und da sah man einen Passanten mit hochgeschlagenem Mantelkragen dahereilen. Während sie in Richtung des Halensees spazierten, atmete Josefine tief den Hauch von Frühling ein, der schon verheißungsvoll in der Luft hing. Von ihr aus konnten sie bis ans Ende der Welt laufen. Wie gern hätte sie sich bei Adrian untergehakt! Stattdessen liefen sie so eng nebeneinander, dass sich ihre Arme immer wieder wie zufällig berührten.
»Ich gehe fort. Noch vor Ostern. Nach Amerika«, sagte Adrian so unvermittelt, dass Josefine ihn im ersten Moment gar nicht verstand.
»Du machst was?«, fragte sie lachend nach und sprang einen Schritt zur
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