Solang die Welt noch schläft (German Edition)
ausgerechnet heute so daherkam? An einem Tag, an dem er sich selbst so intensive Gedanken über seine Zukunft machte?
Er streifte seine Stiefel ab, schleuderte sie in Richtung Garderobe. In der Küche schenkte er sich ein Glas Wein ein. Doch statt in den Salon zu gehen und es sich in einem der großen Ledersessel bequem zu machen, setzte er sich an den Küchentisch und stürzte den Wein in einem Zug hinunter.
Aus seiner Kehle kroch ein bitteres Lachen.
Die Frage, ob er genügend Mut für seinen zweiten Plan aufbringen würde, hatte sich hiermit wohl erledigt. Er hatte gar keine andere Wahl, als zu handeln.
Mit einem Lächeln zog Josefine eine gelbe Strickjacke aus Friedas Kleiderschrank – die hatte die alte Freundin immer pünktlich zum ersten März aus dem Schrank geholt. Ihre »Narzissenjacke« hatte Frieda sie genannt, weil die Wolle exakt die Farbe gelber Osterglocken hatte. Der erste März war zwar erst in einer Woche, doch Josefine beschloss spontan, das Frühlingsritual der Freundin vorzuziehen. Die Jacke passte perfekt zu dem Ensemble aus dunkelbraunem Rock und Bluse, das sie sich vor kurzem gegönnt hatte. Oskar Reutter hatte sie regelrecht zu dem Kauf überredet, als sie kurz nach Neujahr bei ihm vorbeigeschaut hatte. Sie dürfe nicht immer nur arbeiten, sondern müsse sich auch einmal etwas gönnen. Schließlich sei sie eine junge Frau, deren Geschäft wunderbar lief – davon konnte er sich als ihr Bürge bei den monatlichen Abrechnungen überzeugen. Nach Abzug aller Ab- und Ausgaben blieb ihr ein beträchtlicher monatlicher Überschuss. Ob Josefine eigentlich bewusst sei, dass sie – weniger als ein Jahr nach der Eröffnung der Werkstatt – schon eine erfolgreiche und wohlhabende junge Frau war? Jo hatte lachend verneint und hinzugefügt, ihr säße vielmehr ständig die Angst im Nacken, dass sich das Blatt wieder wenden könnte. Den Rock hatte sie am Ende nur gekauft, weil Herr Reutter ihr einen Sonderpreis machte.
Doch als sie sich nun in ihrer neuen Kleidung im Spiegel betrachtete, war sie froh darüber. Bestimmt würden die anderen Vereinsmitglieder sich heute ebenfalls herausputzen.
Josefine feuchtete ihre Haare mit etwas Wasser an, dann knetete sie sie mit beiden Händen, bis sich immer mehr Locken ringelten. Sie kniff sich noch in die Wangen, um ein wenig Röte zu erzeugen. Kritisch schaute sie sich danach noch einmal im Spiegel an. Mit ihren halblangen Locken, die sie stets offen trug, sah sie zwar nicht aus wie eine Ballschönheit, aber die Frisur passte zu ihrem Gesicht und verlieh ihr etwas Kühnes, was ihr gut gefiel.
Nachdem sie der Katze Milch ins Schälchen gegeben hatte, schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr los.
Heute war ein besonderer Tag, denn die Damen und Herren im Verein wollten die Saison mit einem großen Fest einläuten. Nach den verkürzten Winteröffnungszeiten würde die Velobahn ab März wieder täglich geöffnet sein. Josefine war das gleichgültig – sie fuhr nach wie vor lieber auf der Straße, wo sie im Laufe der Zeit große Fortschritte in Bezug auf die Ausdauer gemacht hatte. Die längste Strecke, die Adrian und sie gefahren waren, hatte vier Stunden gedauert. Sommer, Herbst, Winter – niemand konnte ihr mehr vorschreiben, wann und wie lange sie fuhr! Für Josefine gab es kein schlechtes Wetter, sie genoss auf dem Velo den Wandel der Jahreszeiten ganz besonders. Nur in den letzten Wochen, als die Straßen zugeschneit waren, hatte sie aufs Fahren verzichtet. Adrian hatte sie trotzdem gesehen. Unter verschiedenen Vorwänden hatte er sie immer wieder in ihrer Werkstatt aufgesucht. Einmal gab es an seinem Velo etwas zu reparieren. Ein anderes Mal war das Band seiner Armbanduhr gerissen.
Adrian … Josefines Herz schlug schneller, und das hatte nichts mit der kleinen Steigung zu tun, die sie gerade erklomm.
Dank der Kenntnis, dass er und Isabelle nur zum Schein verlobt waren, war ihr schlechtes Gewissen darüber verschwunden, schon wieder von etwas Besitz zu nehmen, das jemand anderem gehörte. Ihre gemeinsamen Ausfahrten waren zu einem wichtigen Teil ihres Lebens geworden, wenn nicht zum wichtigsten. Sie fieberte diesen heimlichen, gestohlenen Stunden regelrecht entgegen. Und wenn sie ihn dann frühmorgens sah, wenn sein ernstes Gesicht sich bei ihrem Anblick zu einem befreiten Lachen verzog – dann hatte sie das Gefühl, dass auch ihm etwas an ihr lag, auch wenn er noch nie etwas Entsprechendes geäußert hatte. Aber was nicht war, konnte immer
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