Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Voraussicht hatte Charles Hansen insgesamt drei Kutschen mit Helfern und Werkzeug als Begleitfahrzeuge engagiert, eins davon stand in Vordingborg parat. Jo bat den Mann, die provisorischen Bremsklötze ihrer Vorderradfelgenbremse auszutauschen, dann ging sie Arm in Arm mit Lilo zu dem Tisch mit dem Essen und den Getränken. Vor ihr standen drei französische Fahrerinnen und ließen sich Kartoffelbrei mit einer dunklen Soße geben. Josefine warf ihnen misstrauische Blicke zu: Waren es etwa dieselben, die, ohne zu helfen, an Isabelles Unfallstelle vorbeigefahren waren?
Josefine erfuhr, dass von den dreißig Rennfahrern, die an den Start gegangen waren, bisher schon sieben aufgegeben hatten. Sie fragte sich im Stillen, ob Isabelle in diese Aufzählung schon einbezogen war. Doch bevor sie nichts zu essen bekommen hatte, wollte sie davon nicht anfangen.
Susanne Lindberg und ihre dänischen Mitfahrerinnen, erfuhr sie, waren längst wieder auf der Straße. Die zierliche Dänin musste von übermenschlicher Natur sein, denn Pausen gönnte sie sich allem Anschein nach so gut wie gar nicht. Niemand wusste genau, wie groß ihr Vorsprung gegenüber allen anderen war. Laut einer englischen Radlerin gehörten Leon Feininger und Veit Merz inzwischen ebenfalls zur Spitzengruppe. Wie schön für Leon, dachte Josefine grimmig. Hauptsache, er fährt vorn mit, auch wenn seine Freundin halbtot im Krankenhaus liegt!
Sie war gerade dabei, den herzhaften Kartoffelbrei zu löffeln, als Luise Karrer eintraf. Mit den Worten »Ich kann nicht mehr!« warf sie erst ihr Rad ins Gras, dann sich selbst.
Lilo, Irene und Jo schauten sich verständnisvoll an. Sie alle kannten dieses Gefühl. Und sie wussten, dass Luise spätestens nach fünf Minuten wieder zu sich kommen würde. Lachend kommentierten sie in der Zwischenzeit ihr derangiertes Aussehen. Alle hatten wirre, staubige Haare, ihre Gesichter waren vom Schweiß, vom Schmutz der Straße und von so mancher Schmerzensträne gezeichnet, ihre Kleider stanken nach Schweiß und Mühsal. Aber wen kümmerte es? Noch waren sie alle gesund und munter.
Dem musste Jo leider widersprechen. Bei einer Tasse Tee und einem süßen Gebäckstück erzählte sie von Isabelles Unfall. Die anderen waren entsetzt zu hören, dass sie das Rennen auf so schreckliche Weise hatte beenden müssen.
»Und Adrian fährt sie in Krankenhaus …« Irene verzog das Gesicht. »So wie es aussieht, hält sie ihn noch immer auf Trab!«
Luise Karrer erzählte, dass sie nördlich von Kopenhagen versehentlich über ein totes Kaninchen gefahren und gestürzt war. »Blödes Vieh«, sagte sie. »Ein Glück, dass es mir bei meinem Sturz nicht wie Isabelle ergangen ist!«
Als Irene daraufhin berichtete, dass sie kurz vor Frederiksværk, also noch auf der ersten Runde, so heftige Krämpfe in den Beinen erlitten hatte, dass sie ebenfalls glaubte aufhören zu müssen, lachte Jo laut auf und erzählte von ihrer Begegnung mit dem Bauern und von ihrer Angst, dass er ihr etwas antun wollte. Dann reichte sie Irene die braune Salbe.
»Das brennt ja wie Feuer!«, rief diese, nachdem sie ein wenig auf eine Wade aufgetragen hatte. »Bist du dir sicher, dass du die Salbe nicht von einem Indianer bekommen hast?«
Josefine schaute verdattert drein.
Irene grinste. »Hat Adrian dir das nicht erzählt? Es war ein indianischer Medizinmann, der mit einer stinkenden Salbe sein Bein zum Abheilen gebracht hat.«
»Mein Medizinmann sah eher aus wie ein wilder Wikinger«, erwiderte Jo lachend.
»Wer weiß? Vielleicht reibt Susanne Lindberg ihren ganzen Körper mit diesem Teufelszeug ein und ist deshalb so schnell«, sagte Luise und rappelte sich ächzend auf.
Schallendes Gelächter folgte.
Kurze Zeit später verabschiedete sich Lilo. Sie wollte das letzte Streckendrittel langsam, aber ohne weitere Schlafpause angehen. So war sie es von ihren bisherigen Langstreckenrennen gewohnt und so wollte sie es auch in Dänemark halten.
Josefine hingegen beschloss, sich ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Irene und Luise taten es ihr gleich.
Nachdem Charles Hansen ihnen dreimal versichert hatte, sie auch wirklich um Mitternacht zu wecken, legte sich Jo in der Scheune zur Ruhe. Das Heu duftete angenehm und erschien ihr weicher als das feinste Daunenbett. Weder Luise Karrers lautes Schnarchen noch das Rascheln der Mäuse zu ihren Füßen hielt Jo davon ab, binnen kürzester Zeit in einen tiefen Schlaf zu fallen.
Etwas war anders, spürte Jo, kaum dass sie ihr Rad
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