Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Bisher war sie auf keiner ihrer Radfahrten in eine echte Gefahr geraten, aber wie schnell konnte das im schlechtesten Falle passieren? Auf einmal wünschte sie sich nichts mehr, als in Begleitung der anderen zu fahren. Aber seit dem unglückseligen Zwischenfall mit Isabelle hatte sie keinen der übrigen Rennteilnehmer gesehen, weder am Straßenrand noch an einem der vielen Brunnen, an denen sie ihre Trinkflasche auffüllte. Und als sie in Svinnige an den nächsten Kontrollpunkt heranfuhr, war sie auch die Einzige, die sich einen Stempel für ihr Heft abholte. Fuhr eigentlich noch jemand dieses Rennen mit?, fragte sie sich ängstlich und ärgerlich zugleich. Was, wenn auch sie in dieser Einöde einen Unfall hatte? Dass solche Ängste nicht ganz unbegründet waren, sah man ja bei Adrian. Wenn sie daran dachte, was ihm widerfahren war …
Seit Josefine vor fast dreißig Stunden aufgebrochen war, hatte sie jeden Gedanken an Adrians Behinderung verdrängt. Nun aber sah sie ihn ständig vor ihrem inneren Auge, wie er sein linkes Bein leicht nachzog.
Auf ihn war geschossen worden wie auf einen räudigen Hund. Ein brutaler Straßenraub wegen einer Taschenuhr und ein paar Dollar, der sein ganzes Leben von einer Sekunde auf die nächste völlig verändert hatte.
Wie leichtherzig er über sein steifes Knie hinweggegangen war! Gerade so als handle es sich um einen Schnupfen, der nach wenigen Tagen wieder verging. Aber was, wenn die Ärzte in der Berliner Charité, die er gleich nach ihrer Rückkehr aufsuchen wollte, ihm nicht würden helfen können? Was, wenn er nie mehr Rad fahren konnte? Was dann?
»Ich habe mein großes Radsport-Abenteuer hinter mir – nun bist du an der Reihe!«, hatte er zu ihr gesagt. Wenn es sein musste, würde sie für ihn bis ans Ende der Welt fahren! Aber würde ihm das wirklich genügen? Oder würde eines Tages, wenn sie aufs Rad stieg, der Neid aus seinem Blick sprechen? Wie würde sie sich dann fühlen?
Was machst du dir für nutzlose Gedanken, schalt sie sich und war froh, als im Licht der untergehenden Sonne die hübschen Fachwerkhäuser von Kalundborg in Sicht kamen. Es war, wie es war. Niemand konnte das Schicksal bezwingen. An ihnen lag es lediglich, das Beste daraus zu machen, und nichts anderes hatte sie vor. Adrian war der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte, daran würden kein kaputtes Knie oder sonstige Behinderungen etwas ändern. Und nun wollte sie sich den nächsten Stempel abholen. Allmählich füllte sich ihr Heft.
In Vordingborg, am südlichsten Zipfel Seelands, war die nächste Verpflegungsstation aufgebaut. Wie am Vortag in Koge hatte Charles Hansen auch hier eine Scheune angemietet, in der die Fahrer ein paar Stunden schlafen konnten. Wie am Vortag wurde Josefine auch hier von den mitreisenden Reportern bestürmt. Wie fühlte sie sich? Welcher Streckenabschnitt war bisher der härteste gewesen? Wie gefiel ihr Dänemark? Glaubte sie, das Rennen beenden zu können?
Obwohl Charles Hansen vor dem Start alle ermahnt hatte, zuvorkommend und freundlich zu den Reportern zu sein, beantwortete Jo die Fragen so knapp wie möglich.
Müde, aber noch nicht völlig erschöpft, stellte sie danach ihr Rad an der Scheunenwand ab, als hinter ihr jemand sagte: »Na, auch schon da?«
»Lilo!« Josefine fiel ihrer Schwarzwälder Freundin um den Hals. »Endlich treffe ich mal wieder eine von euch!«
Lilo grinste. »Hast wohl geglaubt, wir hätten schon aufgegeben? Nichts da! Ich bin schon seit zwei Stunden hier, eigentlich wollte ich gerade aufbrechen, aber was soll’s. Während du isst, leiste ich dir gern noch ein bisschen Gesellschaft. Irene ist übrigens vor knapp einer Viertelstunde gekommen. Ich bin gespannt zu hören, wie es euch bisher ergangen ist.«
»Irene eine Viertelstunde vor mir … Das gibt’s doch nicht«, murmelte Jo. Das hieß, dass Adrians Schwester und sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt gefahren waren. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie sich die letzten Stunden über vielleicht nicht so einsam gefühlt …
»Adrian und Gerd Melchior sind noch nicht angekommen?«
Lilo verneinte, aber nichts anderes hatte Jo erwartet. Bis die beiden Isabelle in ein Krankenhaus gebracht, die Pferde gewechselt und sich wieder auf den Weg gemacht hatten, war sicher viel Zeit vergangen. Vielleicht würden sie eine Abkürzung nehmen oder die Route in umgekehrter Richtung fahren, um den Radfahrerinnen wieder zur Verfügung zu stehen.
In weiser
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