Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Jacke und Mütze ihres Vaters. Eine rote Haarsträhne lugte unter der Kappe hervor. Isabelle stopfte sie eilig zurück.
»Ich habe noch etwas«, sagte Jo und holte ein kleines Stückchen Kohle aus ihrer Jackentasche. Bevor Isabelle etwas tun oder sagen konnte, malte sie der Freundin einen Schnurrbart, dann zog sie auch auf ihrer Oberlippe einen schwarzen Strich.
»So sehen wir wie zwei echte Burschen aus, oder?« Grinsend warf sie das Kohlestück in die Gosse.
»Du bist wirklich verrückt! Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Isabelle leise lachend, während sie die Velos hastig in Richtung Schlesischer Busch schoben. Wie erhofft, war die Straße zu so früher Stunde wie ausgestorben.
»Ich dachte, wir nehmen die Warschauer Straße in Richtung Friedrichshain, dort ist um diese Tageszeit bestimmt noch keine Menschenseele unterwegs«, sagte Jo, während sie aufsaß. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals – wenn sie bei diesem Abenteuer entdeckt wurden …
»In den Volkspark Friedrichshain willst du? Zwischen Wiesen und Bäumen fahren? Das ist mir zu langweilig.« Isabelle schüttelte den Kopf. »Ich möchte die Straßen entlangfahren, die auch unser Kaiser nimmt. Lass uns zum Prunkboulevard Unter den Linden fahren. Du und ich auf dem Veloziped durch das Brandenburger Tor – dafür lohnt es sich wenigstens, Kopf und Kragen zu riskieren!«
Obwohl Jo den Lenker festhielt und sich darauf konzentrierte, geradeaus zu fahren, fanden die schmalen Vollgummireifen des Rover nur schwer Halt auf der regennassen Straße. Jo hatte das Gefühl, durch eine Schüssel Pudding zu strampeln. Die ersten paar Minuten war sie deshalb so verkrampft, dass sie kaum atmen konnte. Auch von Isabelle, die neben ihr fuhr, war kein Ton zu hören, mit verbissener Miene schaute sie stur nach vorn. Beiden gingen dieselben Gedanken durch den Kopf: Was, wenn ihnen ein Vorderrad wegrutschte und sie einen Unfall verursachten? Und das so kurz nach Claras Malheur? Moritz Herrenhus würde ihnen den Kopf abreißen!
Als sie am Diakonissenkrankenhaus vorbeifuhren, wanderten ihre Gedanken kurz zu Clara, die hinter einem der vielen Fenster so früh bestimmt noch friedlich schlief – falls ihr sperriger Gipsverband friedlichen Schlaf überhaupt zuließ. Arme Clara. Hoffentlich würde ihr nicht bald eine von ihnen beiden Gesellschaft leisten.
In der Köpenicker Straße bogen sie links ab, die Straße wurde steiler, dafür aber auch trockener. Jos Beine zitterten vor Anstrengung, ihr Atem ging schnell, und sie öffnete den Mund, um mehr Luft in die Lunge zu bekommen. Im Schwarzwald hatten Lilo und sie zwar auch einige Steigungen bewältigt, aber diese Zeit lag lange zurück, und die eintönigen Velorunden im Herrenhus’schen Hof konnte man nicht gerade als sportliches Fahren bezeichnen. Isabelle, die links von ihr fuhr, schien es nicht viel anders zu ergehen, ihr Gesicht war puterrot vor Anstrengung, aber wie Jo biss auch sie die Zähne zusammen.
Nach einigen weiteren Minuten ließ das Brennen in Jos Oberschenkeln nach, ihre Muskeln hatten sich an die ungewohnte Arbeit gewöhnt, sie fand ihren Rhythmus, wurde wieder schneller. Die grauen Mietshäuser huschten wie Unwetterwolken an ihnen vorbei, der Fahrtwind legte sich wie ein kühler Schleier auf ihre Wangen – es fühlte sich köstlich an. In Jos Innerem jubilierten ganze Engelschöre. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte eine Hand vom Lenker genommen, um sich zu kneifen. War das alles nur ein schöner Traum? Oder war es Wirklichkeit? Sie fuhr nicht durch den düsteren Schwarzwald, sondern durch ihre schlafende Stadt. Sie fuhr mit dem Veloziped durch Berlin! Ein Seufzen, das eher ein Schluchzer war, stieg aus Jos Kehle empor. Und dann lachte sie. Lachte aus vollem Herzen, was in ihrem Alltag sonst so selten geschah. Du meine Güte, war das schön …
Bald sahen sie die Fischerbrücke vor sich, neben der ein paar Boote einsam im Wasser vor sich hin dümpelten. Ein Schwarm Möwen stob auf und geiferte verärgert. In einem Wirtshaus am rechten Straßenrand, über dessen Eingang ein Schild der Brauerei Berliner Kindl hing, öffnete sich die Tür, ein junger Kerl in schmutziger Schürze und mit mürrischem Gesichtsausdruck erschien und kippte einen Eimer Wasser direkt vor Jo auf die Straße. Abrupt riss sie ihren Lenker nach links und konnte so einen Zusammenstoß mit dem Burschen gerade noch verhindern – allerdings wäre sie bei ihrem Manöver fast mit Isabelle zusammengestoßen, die
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