Solang die Welt noch schläft (German Edition)
zu können. Und so deponierten sie die Sachen praktischerweise gleich im Veloschuppen hinter einem Stapel Gerümpel. Hatte Isabelle einmal keine Lust auf eine Ausfahrt in aller Herrgottsfrühe, weil am Vorabend ein Tanzball angestanden hatte und sie müde war, ließ sie das Tor einen Spalt weit offen stehen, so dass sich Jo allein im Veloschuppen bedienen konnte.
Jo fühlte sich inzwischen so sehr mit Moritz Herrenhus’ Rover verbunden, dass sie ihn fast als ihren eigenen betrachtete. Diese Empfindung wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass der vielbeschäftigte Unternehmer das Rad so gut wie nie selbst fuhr.
War ihr bisher nur das Velofahren selbst wichtig gewesen, so hockte sie sich nun immer öfter ein paar Minuten vor den Rover auf den Boden und versuchte, die Technik, die hinter allem steckte, zu ergründen. Allein die Antriebsvorrichtung, die aus dem großen und kleinen Kettenrad, den Kurbeln, den Pedalen und vielen Teilen mehr bestand, war in ihren Augen ein Wunderwerk der Technik. Dazu kam der ausgeklügelte Steuerungsmechanismus, der oben bei der Lenkstange anfing und unten am Vorderradgabelkopf endete. Wer hatte sich das bloß alles ausgedacht?
Als sie Isabelle fragte, ob die Fabrik, aus der der Rover stammte, bei dessen Auslieferung nicht auch eine Art Beschreibung mitgeliefert hatte, erwiderte diese: »Es gibt sogar ein ziemlich dickes Beiheft mit einer genauen Teilebeschreibung und vielem mehr. Allerdings ist der Text in Englisch. Und Vater hat das Heft bei seinen Unterlagen im Büro, ich komme also nicht daran, falls das deine Frage war.«
Josefine verzog das Gesicht. »Hast du eine Ahnung, wo man sonst ein Buch oder eine Art Broschüre über Velozipede bekommt?«
»Falls es überhaupt etwas übers Velofahren gibt, dann würde ich sagen, du findest es am ehesten in der großen Buchhandlung am Alexanderplatz.«
Und Josefine, die seit ihrer Kur kein einziges Buch mehr aufgeschlagen hatte, Josefine, die noch nie in ihrem Leben in einer Buchhandlung gewesen war, nahm sich vor, das Geschäft baldmöglichst aufzusuchen. Velofahren war schön und gut. Aber das Drumherum interessierte sie inzwischen mindestens genauso sehr.
»Wie hässlich es hier ist, alles grau in grau«, sagte Isabelle, als sie eines Morgens durchs Stralauer Viertel fuhren. Der Julitag versprach heiß zu werden, seit fast zwei Wochen hatte es nicht mehr geregnet, der Boden und die Luft waren staubig und trocken. »Nirgendwo ein bisschen Grün, kein einziger Laden, nicht einmal Handwerksbetriebe gibt es hier. Dafür treiben sich alle möglichen düsteren Gestalten herum. Richtig unheimlich ist mir zumute.«
»Die Leute treiben sich nicht herum, sie wohnen hier. Und sie müssen sehr schwer für ihr Auskommen schuften«, sagte Josefine, die großen Respekt vor den Arbeitern hatte, ungewohnt heftig. Mit dem Kinn wies sie in Richtung der vielgeschossigen Mietshäuser, in denen die Fabrikarbeiter auf engstem Raum lebten. In großen Gruppen waren sie schon frühmorgens mit verschlossener Miene und gebückter Haltung auf dem Weg in die Fabriken und warfen ihnen, den »reichen Pinkeln auf ihren Drahteseln«, feindliche Blicke zu.
»Und wennschon«, antwortete Isabelle. Heftig trat sie in die Pedale, um das Viertel so schnell wie möglich zu verlassen. »Was, wenn wir ausgerechnet hier eine Panne haben? So unfreundlich, wie die Leute aussehen, werden sie uns steinigen.«
»Erstens sind unsere Räder so robust, dass wir bisher so gut wie keine Pannen hatten. Und wenn sich doch einmal eine Schraube lockert, ist das auch kein Problem, ich habe Werkzeug dabei. Eine kleine Reparatur traue ich mir ohne weiteres zu«, antwortete Jo selbstbewusst. Gleichzeitig hoffte sie inständig, dass ihr Vater den Verlust der Werkzeuge – von denen sie hoffte, dass sie im Notfall die richtigen waren – nicht so schnell bemerkte.
»Wenn du jetzt schon selbst unter die Handwerker gehst, wundert es mich nicht, dass es dir im Stralauer Viertel oder in Charlottenburg gefällt«, sagte Isabelle pampig. »Ich hingegen mache mir meine Hände bestimmt nicht schmutzig. Und ich möchte lieber durch elegante Viertel fahren, in denen sich eine Villa an die andere reiht. Dort sind die Straßen viel sauberer und besser gepflegt – Stolperfallen wie herausgerissenes Kopfsteinpflaster oder tiefe Furchen, von schweren Fuhrwerken in den Boden gepflügt, gibt es dort nicht. Und außerdem kann ich dir dann zeigen, wo die feinen Leute wohnen.«
Als ob mich das
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