Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Veloschuppens. Ob der Unternehmer sein Verbot irgendwann rückgängig machen würde?
»Falls doch der Rock schuld an Claras Sturz gewesen ist, dann spricht dies umso mehr dafür, beim Velofahren eine Hose zu tragen«, sagte Lilo und schaute die beiden anderen trotzig an. »Warum traut ihr euch nicht einfach mal an solch ein Kleidungsstück?«
»Das ist ein geradezu ekelhafter Gedanke! Und völlig unweiblich noch dazu.« Isabelle schüttelte sich, als liefe ihr ein kalter Schauer über den Rücken. »Niemals würde ich ein so unbequemes, enges Kleidungsstück überstreifen.« Sie legte ihre Hände beschützend auf ihren gelb-weiß geblümten Rock, als wollte ihn ihr jemand im nächsten Moment vom Leib reißen.
»Wenn ich an die speckigen Hosen meines Vaters denke, brrr! Ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, so etwas anzuziehen«, sagte Josefine. »Außerdem – wir dürfen ja eh nicht fahren.«
»Verbote hin, Verbote her.« Lilo verdrehte die Augen. »Da wollt ihr Städterinnen immer so fortschrittlich sein und dann seid ihr so empfindlich. Was würdet ihr dazu sagen, wenn ich euch erzähle, dass es bei französischen Velofahrerinnen sogar in Mode ist, mit einer Art … Hosenrock Velo zu fahren?« Auf Josefines und Isabelles fragenden Blick hin holte die Schwarzwälderin weiter aus.
»Im späten Frühjahr hat eine Gruppe von Damen in unserer Heilanstalt gastiert. Eine davon hatte ein Velo im Gepäck. Die Leute haben ziemlich dumm geguckt, als sie damit durch Schömberg fuhr!« Lilo kicherte. »Sie trug dabei besagten Hosenrock. Nach ein paar Tagen fasste ich mir ein Herz und sprach sie auf dieses ungewöhnliche Kleidungsstück an. Sie meinte, in Paris, wo sie herkäme, sei dies gar nicht so ungewöhnlich, dort gäbe es so etwas sogar in Geschäften zu kaufen. Sie nannte den Hosenrock ein costume rationnel .«
»Ein vernünftiges Kleidungsstück«, wiederholte Isabelle auf Deutsch und biss sich auf die Unterlippe. Abrupt stand sie auf und begann, mit der rechten Hand den Stoff ihres Rockes in der Mitte zusammenzuraffen. »Wenn man den Stoff hier in Falten legt und, sagen wir, unterhalb der Knie mit ein paar Stichen zusammennäht – ergäbe dies solch ein costume rationnel ?«
Lilo zuckte mit den Schultern. »So ähnlich hat es ausgesehen.«
Den Rockstoff noch immer in der Mitte festhaltend, hob Isabelle ihr rechtes Bein, als wollte sie ein Velo besteigen. »Das fällt unbestritten leichter!«
»Einen Rock so umzuändern, dass er beim Velofahren komfortabel wie eine Hose ist, aber dennoch aussieht wie ein Rock – keine schlechte Idee«, murmelte Josefine vor sich hin. Sie schaute auf. »Mein Rock ist alt und an vielen Stellen schon löchrig, lange könnte ich ihn sowieso nicht mehr tragen. Wenn ihr mögt – ich würde ihn für einen Versuch zur Verfügung stellen. Isabelle, du müsstest nur Nadel und Faden holen …«
Josefine saß schon im Unterrock da, als ein Streit darüber entbrannte, wie hoch die »Mittelnaht« gehen sollte.
»Höchstens bis über den Knöchel, alles andere ist unschicklich« war Isabelles Ansicht.
»Wennschon, dennschon«, sagten hingegen Jo und Lilo. Mit mehr oder weniger ebenmäßigen Stichen nähten sie den Stoff in der Mitte bis über die Knie zusammen, so dass zwei »Beine« entstanden.
»Wie kannst du in solch einem Fetzen herumlaufen! Da ist ja mindestens so viel Stopf- wie Näharbeit nötig. Wäre bloß Clara da«, stöhnte Isabelle, die die Nadel führte. Wie die beiden anderen war sie nicht gerade eine versierte Näherin.
Dann war die erste Anprobe fällig. Unter dem Gelächter der anderen stieg Josefine in ihr neues Beinkleid und tat so, als wäre dies etwas ganz Normales.
»Nun ja … Von weitem sieht es noch immer wie ein Rock aus«, sagte Isabelle. »Wie fühlt es sich an?«
»Ganz gut«, sagte Jo. »Aber um beurteilen zu können, ob dieses Beinkleid tatsächlich praktischer ist als ein gewöhnlicher Rock, muss ich ein Velo besteigen.«
»Du weißt doch, dass Vater es uns verboten hat«, sagte Isabelle, ging jedoch nach einigem Zaudern in den Schuppen, um den Rover ihres Vaters hervorzuholen. Sie ermahnte Jo, sich nur im Sichtschatten des Schuppens zu bewegen, dann übergab sie das Gefährt.
»Und?«, fragten Isabelle und Lilo gleichzeitig, während sich Josefine auf das Velo schwang.
»Das Aufsitzen funktioniert ganz gut …«
»Aber?«
Josefine zeigte auf das Hinterrad. »Schaut – hier kann das Beinkleid immer noch in die Speichen
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