Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Immer wieder dankte sie ihrem Herrgott dafür, dass Moritz Herrenhus das Tor zu seinem Anwesen nachts nicht abschloss, sondern nur zuzog. So wie ein Trinker nicht genug bekommen kann von Hochprozentigem, so erging es Jo mit ihrer Leidenschaft: Im Herbst bestieg sie fast jede Nacht das Velo, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass lange und harte Arbeitstage in der Hufschmiede hinter ihr lagen. Dass sie eigentlich müde war, Kreuzschmerzen und lahme Arme hatte. Dass ihr Kopf dröhnte vom ewigen Hammerschlag ihres Vaters. Oder ihre Augen brannten vom ewigen Qualm der Esse. Aber all diese Unannehmlichkeiten waren vergessen, sobald sie nur an das Velo dachte. An manchen Abenden reichte ihre Zeit noch nicht einmal für ein Essen. Aber dass ihr Magen vor Hunger knurrte, vergaß sie spätestens dann, wenn sie durch die bunt belaubten, von Straßenlaternen spärlich beleuchteten Prachtalleen der Stadt fuhr und eine leichte Gänsehaut über ihren Rücken kroch. Das Wissen, dass die kalte Jahreszeit Velofahren bald unmöglich machen würde, versetzte Jo in einen geradezu frenetischen Zustand: Jetzt galt es, jede erdenkliche Möglichkeit auszunutzen!
Und dann, von einem Oktobertag zum anderen, verabschiedete sich der Spätsommer. Die Stadtvögel flogen gen Süden. Entlang der Spree legte sich der Nebel wie eine Daunendecke über die Straßen, ein kalter Ostwind zerrte so heftig an den Bäumen, bis diese erschöpft ihr Blätterkleid fallen ließen. Der Herbst, der sich schon längst übers freie Land gelegt hatte, nahm nun auch die große Stadt in Beschlag.
Jos Augen tränten so heftig, dass sie ständig blinzeln musste, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Trotz höchster Konzentration rutschte ihr auf dem durch nasse Blätter und Regen schlüpfrig gewordenen Boden immer wieder das Vorderrad weg, sie musste mühevoll ihr Gewicht ausbalancieren, um nicht zu stürzen.
»Du willst doch nicht etwa heute Nacht fahren?«, hatte Isabelle sie entsetzt gefragt, als sie sich am frühen Abend auf der Straße kurz über den Weg gelaufen waren. Die Fabrikantentochter war – in ein schickes Kostüm gekleidet – von der Höheren Töchterschule gekommen, Jo hatte Kohlen von der Straße durch eine Klappe in den Keller ihres Hauses geschippt.
»Und ob«, hatte sie knurrend entgegnet. Wenigstens etwas Erfreuliches musste der Tag zu bieten haben, vor allem nachdem sie am frühen Morgen in einer Metallwarenfabrik eine weitere Abfuhr bezüglich einer Lehrstelle erhalten hatte. Inzwischen waren es über zwei Dutzend!
Isabelle hatte besorgt den Kopf geschüttelt und gemeint, dass die Saison endgültig vorbei sei.
Das werden wir ja sehen, hatte Jo im Stillen gedacht.
Doch als sie in dieser Nacht durch die bedrohlich düsteren Straßen fuhr, fragte sie sich, ob die Freundin nicht doch recht gehabt hatte. An jeder Straßenecke wurde der Wind stärker, gezackte Kastanienblätter wirbelten wie aufgescheuchte Hühner durch die Luft und klatschten ihr immer wieder ins Gesicht, so dass sie zusammenschrak.
Sie würde die Landsberger Allee noch ein Stückchen weiterfahren und dann umkehren, beschloss Jo. Der Gedanke an ihr warmes Bett war auf einmal sehr verführerisch.
Im nächsten Moment hörte sie über sich im Baldachin der Alleebäume ein leises Knacken.
Ein Ast fiel direkt vor ihr auf die Straße.
Als Jo wieder zu sich kam, spürte sie einen beißenden Schmerz in der rechten Schulter. Er war so allumfassend, dass er ihr schier den Atem nahm. Wo war sie? Was war geschehen? Sie blinzelte.
»Sie macht die Augen uff! Herr Wachtmeister, nu kieken Se doch!«
»Das Weib kommt zu sich, wat für ’n Jlück!«
»Sie lebt, hab ick’s dir nich jesacht?«
»He Sie, Frollein!«
Jo stöhnte schmerzerfüllt, als jemand unsanft an ihrem Arm rüttelte.
»Aufwachen, Sie!«
Sie blinzelte erneut und blickte in die Gesichter einer Handvoll fremder Menschen.
»Wo … Was …« Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippe und schmeckte etwas Metallisches – Blut. Ein kalter Schauer kroch ihr über den Rücken. Sie versuchte, an sich hinabzuschauen. Ihre Hose, ihr Kittel, alles war nass und verschmutzt!
»Sie sind gestürzt. Sind wahrscheinlich über den Ast hier gefahren. Dabei ist die Gabel Ihres Velozipeds gebrochen«, sagte ein Mann in Uniform. »Sie können von Glück reden, dass Sie sich nicht das Genick gebrochen haben! Die Anwohner hier haben Sie entdeckt und mich gerufen.«
Ein Polizist. Jo schloss verzweifelt die Augen. Schlagartig
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