Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Richtung erkunden! Oder herausfinden, was im äußersten Süden der Stadt liegt.«
»Ich weiß nicht … Was, wenn wir betrunkenen Nachtschwärmern begegnen? Am Ende kreuzen sich unsere Wege noch mit einem der Herren, mit denen mich meine Eltern bekannt gemacht haben. Oder wir haben in finsterer Nacht einen technischen Defekt!«
»Also wirklich, du bist doch sonst auch kein Hasenfuß. Eine nächtliche Fahrt zum Wannsee stell ich mir jedenfalls sehr amüsant vor«, sagte Jo herausfordernd. »Oder habe ich mich die ganze Zeit in dir getäuscht?«
Die Fabrikantentochter schnaubte. »Ich weiß ganz genau, dass du mich mit solchen Reden nur ködern willst. Aber du hast ja recht – das Leben ist zu öde, um auch nur ein Abenteuer auszulassen. Lass es uns gleich morgen Nacht ausprobieren!« Sie hielt Jo die rechte Hand hin. Jo schlug grinsend ein und wollte ihre Hand schon wieder fortziehen, doch Isabelle hielt sie fest umklammert. In ihren Augen blitzte der Schalk, als sie sagte: »Dass eines klar ist – wenn wir schon in tiefster Dunkelheit zum Wannsee fahren, dann nehmen wir dort auch ein nächtliches Bad!«
Um ein Uhr in der Nacht seien abendliche Dinner und Tanzbälle längst zu Ende, hatte Isabelle gemeint, ein guter Zeitpunkt also, um aufzubrechen. Da Josefine keinen Wecker besaß, machte sie vor lauter Angst zu verschlafen kein Auge zu. Schon als die Kirchturmglocke Mitternacht schlug, saß sie fertig angezogen auf dem Stuhl in ihrer Kammer und wartete darauf, dass die Zeit verging. Ihr »Fluchtweg« war derselbe wie bisher – sie würde einfach die Treppe leise hinabgehen, so tun, als müsse sie das stille Örtchen aufsuchen, und dann zur Hintertür hinaus verschwinden. Als sie sich endlich auf den Weg machte, klopfte ihr Herz dennoch heftiger als sonst.
Die Nacht war mondhell und klar. Jo wartete unruhig am Eingangstor zum Anwesen der Familie Herrenhus. Zu ihrer Erleichterung sah sie im nächsten Moment Isabelle mit den beiden Velozipeden auf sich zukommen. Die Unternehmertochter sah gutgelaunt aus und keinesfalls so verzagt, wie Jo sich fühlte. Statt einer wortreichen Begrüßung tauschten sie nur einen Blick. Sie wollten gerade den Hof verlassen, als Josefine innehielt. »Riechst du das auch? Wie das Parfüm deiner Mutter. Bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?«
Isabelle lachte leise. »Du Schaf! Das sind die weißen Blüten der Mondwinde, die sich um den Gartenpavillon rankt, die so duften! Sie verströmen ihren süßen Geruch nur nachts.«
»Ach so«, flüsterte Jo kleinlaut. Dann hielt sie Isabelle am Arm fest. »Und du hast die Strecke auch wirklich im Kopf?«
Die Unternehmertochter nickte. »Wir fahren am Tiergarten vorbei, dann müssen wir wohl oder übel durch Charlottenburg. Danach ist’s bis zum Wannsee nicht mehr weit. Und jetzt komm endlich, bevor ich auch noch die Courage verliere!«
Nun, da in den Straßen der Luisenstadt die Lichter längst erloschen waren, wirkte die Stadt fast gespenstisch und unglaublich faszinierend. Alles sah so anders aus! Josefine kam es vor, als führen sie lauter unbekannte Wege entlang. Die Ängstlichkeit, die sie zuvor verspürt hatte, löste sich bei den ersten Tritten in die Pedale in Luft auf. Danach waren ihre Sinne geschärft wie noch nie. Sie spürte den Fahrtwind wie ein Streicheln auf ihren nackten Armen. Die Silhouette der Häuserzüge, die sich tiefschwarz gegen den etwas helleren Himmel abhob, erschien ihr wie mit einer scharfen Tuschefeder gezogen. Immer wieder, an verschiedenen Ecken, erfüllte der Duft der Mondwinde die Luft.
Als sie sich der Mitte Berlins näherten, kreuzten Fußgänger und Droschken ihren Weg – mehr, als sie beide erwartet hatten. Aber die Nachtschwärmer waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie sich um zwei junge Burschen auf Fahrrädern gekümmert hätten. Nach wenigen Kilometern stand für Josefine eines fest: Nachts zu fahren war noch tausendmal besser als in den frühen Morgenstunden!
»Siehst du dort links auf halber Höhe des kleinen Hügels das Restaurant Reichsgarten? Hierher hat Vater Mutter und mich schon öfter zum Essen ausgeführt«, sagte Isabelle, nachdem sie die Chaussee von Charlottenburg nach Pichelsberg passiert hatten. »Ich schätze, wir sind in zehn Minuten am Wannsee.«
»Das ist auch gut so, allmählich werden meine Beine schwer«, erwiderte Jo. Sie hob eine Hand vom Lenker, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
»Mir geht’s nicht besser, wir sind
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