Solang die Welt noch schläft (German Edition)
bereit, jeden von Ihnen gewünschten Betrag als zinsloses Darlehen für die nächsten fünf Jahre bereitzustellen – unter der Prämisse, dass Ihr Sohn und meine Tochter sich im kommenden Jahr verloben, um dann in den nächsten zwei Jahren vor den Traualtar zu treten.« Er beugte sich über den Tisch. Seine Augen funkelten arrogant und frech zugleich, als er sagte: »Die Frage ist doch nur, wie weit Sie auf Ihren Sohn einwirken können? Oder ist Ihr Einfluss auf ihn etwa ebenso gering wie der auf Ihre derzeitige finanzielle Situation?«
Die Weihnachtsfeier der Berliner-Fabrikanten-Union, kurz BFU genannt, eines Zusammenschlusses von Geschäftsleuten aus dem verarbeitenden Gewerbe, fand im gesamten siebten Stock des Hotels Berlin statt.
Direkt hinter der Eingangstür, gegenüber der Garderobe, war eine große Tombola aufgebaut worden – der Losverkauf sollte einem wohltätigen Zweck zugutekommen, die Losgewinne waren von den Gästen selbst gestiftet worden. Zwei überlange Tische brachen unter der Last unterschiedlicher Güter beinahe zusammen: Versilberte Besteckwaren in edlen Schatullen lagen neben Stapeln blütenweißer Bettwäsche, Kochtöpfe teilten sich mit Zylinderhüten den Platz, Perlmuttknöpfe gab es und auch Fingerhüte. An die Wand hinter den Tischen hatte jemand etliche Schürzen und dunkle Röcke geheftet. Bereits jetzt waren die attraktiven Losverkäuferinnen mit ihren Bauchläden von etlichen Gästen umlagert. Wollten die Damen und Herren etwa unbedingt eine Herrenhus’sche Schürze ergattern? fragte sich Isabelle, während sie mit ihren Eltern darauf wartete, dass die Garderobiere ihnen ihre Mäntel abnahm.
Gutgelaunt spazierte sie am Arm ihres Vaters durch die weihnachtlich geschmückten Räume, die nach Tanne, Gänsebraten und Bratäpfeln dufteten. Die Fabrikanten-Union hatte sich nicht lumpen lassen: Im größten Saal war für das Galaabendessen aufgestuhlt worden, im Saal daneben sollte es Tanz und Musik geben. Noch hörte man von dort lediglich ein paar schräge Geigentöne – die Musiker stimmten ihre Instrumente ein. In den Alkoven links und rechts des großen Saals waren gleich mehrere Sekt- und Champagnerbars eingerichtet worden. Isabelle ließ sich am ersten Stand ein Glas des moussierenden Schaumweins geben – sie hatte vor, den Abend in vollen Zügen zu genießen. Und was die Pläne ihres Vaters anging … Sie lächelte. Bisher hatte sie sich noch immer zu wehren gewusst.
»Heute ist ein ganz besonderer Abend, meine Lieben!« Mit erhobener Hand prostete Herrenhus ihr und ihrer Mutter zu, dann stellte er sein Glas ab. »Mal sehen, wo sie uns platziert haben.«
Sie hatten gerade ihre Plätze an einer der langen Tafeln eingenommen, als ein älterer Herr in Frack steifbeinig und mit strenger Miene direkt auf sie zusteuerte. Isabelle kniff die Augen zusammen. War das nicht der Vater ihrer Schulfreundin Irene? Sie hatte den Mann mehrmals in der Höheren Mädchenschule gesehen, Gottlieb Neumann gehörte zu den Gönnern des Instituts. Isabelles gute Laune kühlte sich um einige Grade ab bei dem Gedanken, dass auch die Schulkameradin mit ihrem arroganten Gehabe diese Feier besuchte.
»Mein lieber Gottlieb! Wie schön, Sie hier zu sehen.« Ihr Vater sprang regelrecht von seinem Stuhl auf und schüttelte dem Mann enthusiastisch die Hand.
Isabelle stutzte. Gottlieb ? Seit wann war ihr Vater mit dem Elektrofabrikanten so vertraulich?
Erst jetzt sah sie, dass der alte Herr einen jungen Mann im Schlepptau hatte. Er war hochgewachsen, schlank, aber nicht schlaksig, und sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte zwanzig. Er besaß tiefblaue Augen und goldblonde Haare, wie der Held aus einer alten Sage. Isabelle konnte sich nicht daran erinnern, je solch ein Goldblond bei einem Mann gesehen zu haben. Da der Bursche im Gegensatz zu den meisten Männern keinen Bart trug, vermochte Isabelle unauffällig seine schönen vollen Lippen zu mustern, die jedoch ein wenig verkniffen wirkten. Er schaute gereizt drein, gerade so als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen. Isabelle grinste in sich hinein – solche Launen kannte sie allzu gut! Das konnte doch nie und nimmer der Bruder von Irene, dem Pferdegesicht, sein, oder? Falls ja, hatte der liebe Gott die Schönheit in der Familie sehr ungerecht verteilt, dachte sie schmunzelnd. Der junge Mann war unbestritten attraktiv.
»Adrian ist gerade erst vom Studieren aus München zurückgekommen. Er hat uns in dieser Zeit nur sehr selten hier in
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