Solang die Welt noch schläft (German Edition)
völlig aus der Übung«, schnaufte Isabelle.
Am Ufer des Wannsees angekommen, warf sie ihr Velo ins Gras und riss sich die kratzigen, verschwitzten Wollsachen vom Leib. Nur mit Leibchen und Unterhose bekleidet ging sie auf Zehenspitzen zum Wasser.
»Ich kann es kaum erwarten, mich abzukühlen. Wo bleibst du denn?«, rief sie Jo über die Schulter hinweg zu.
Statt Isabelle ins Wasser zu folgen, blieb Jo reglos am Ufer stehen. Mit belegter Stimme sagte sie: »Wie der See im Sternenlicht silbern glänzt! Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen …«
»Jetzt werd bloß nicht zu gefühlvoll«, antwortete Isabelle, dann tauchte sie beide Hände in den See und schaufelte Wasser in Josefines Richtung.
Jo schrie erschrocken auf, doch schon im nächsten Moment tat sie es Isabelle gleich. Ausgelassen und kichernd planschten sie wie zwei Kinder im Wasser.
Kurze Zeit später ließen sie sich erschöpft ins feuchte Gras sinken. Nachtinsekten schwirrten um sie herum, ein Stück von ihnen entfernt quakten im hohen Schilf die Frösche, ein Wasservogel stieß immer wieder schrille Schreie aus.
Isabelle strich mit ihrer Hand durch das struppige Gras. »Ich habe das Gefühl, auf einer einsamen Insel in einem weiten Ozean gelandet zu sein. Oder in einem exotischen Urwald. Und keine Sorge weit und breit. Ach, könnten wir doch ewig hier liegen bleiben.«
»Du und deine Sorgen !«, sagte Jo neckend. Sie machte eine weite Handbewegung, mit der sie den See und seine Umgebung einschloss. »Dieser Moment hier – er gehört uns ganz allein. Ich glaube nicht, dass es viele junge Frauen gibt, die so etwas erleben dürfen.«
Isabelle stützte sich mit ihrem rechten Ellenbogen auf, so dass sie Jo anschauen konnte. »Schöne Momente … Sie sind flüchtig wie der Duft von Parfüm. Was, wenn mir das nicht reicht? Was, wenn ich mehr vom Leben erwarte? Der Gedanke, dass ich mich als Freifrau von Salzfeld später einmal von früh bis spät nur zu Tode langweile, ist für mich unerträglich. Ich will nicht leben wie meine Mutter. Manchmal, wenn ich an Clara und ihre Begeisterung fürs Pillendrehen denke, werde ich ganz neidisch. Ich möchte auch eine Aufgabe haben, etwas tun, was wirklich sinnvoll ist.«
Jo nickte, sie konnte die Freundin sehr gut verstehen. »Clara hat mir erzählt, dass Frauen im kommenden Jahr an verschiedenen Fakultäten Zulassungen bekommen sollen, sie möchte sich erkundigen, ob sie Pharmakologie studieren kann.« Es war schon seltsam – ausgerechnet Clara, der es keiner so richtig zugetraut hätte, verwirklichte einen Traum nach dem anderen.
»Frauen an der Universität?« Isabelle schnaubte. »Das bleibt auch noch abzuwarten. Denk doch nur daran, was du während deiner Suche nach einer Lehrstelle erlebt hast. Glaubst du, die Hochschulprofessoren sind eher bereit, Frauen Zutritt in ihr Allerheiligstes zu gewähren?«
»Ach verflixt, warum ist das Leben so ungerecht!« Jo schlug mit der rechten Faust auf den Boden neben sich. »Warum dürfen wir nicht einfach tun und lassen, was wir mögen? Studieren oder Mechaniker werden. Und Velo fahren, wann immer man Lust dazu hat.«
Isabelle grinste. »Ich möchte viel lieber aus Liebe heiraten dürfen! Oder auch gar nicht. Und ich möchte –«
»Frei entscheiden können, ob man einen Rock oder eine Hose trägt«, fiel Jo ihr ins Wort.
Sie lachten übermütig.
Dann seufzte Jo sehnsuchtsvoll. »Ob Frauen jemals solche Möglichkeiten haben werden?«
Einen Moment lang war nur das Zirpen der Grillen zu hören. Schließlich antwortete Isabelle: »Vielleicht … wenn das neue Jahrhundert anbricht.«
»In nur neun Jahren soll es so weit sein?« Jo konnte die Skepsis in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Da müsste sich der Wind, der uns derzeit so harsch ins Gesicht bläst, aber ordentlich drehen. Und er müsste all die verstaubten Ansichten über uns wegfegen!«
»Vielleicht wird es eines Tages solch einen Wind geben«, bemerkte Isabelle kühn.
»Das müsste dann ein Jahrhundertwind sein«, sagte Jo trocken und rappelte sich auf. Es war Zeit, sich auf den Nachhauseweg zu machen.
Sie saßen schon wieder auf den Velos, als Josefine innehielt und die Freundin nachdenklich anschaute.
»Ein Jahrhundertwind – das gefällt mir!«
Josefine erlebte die nächtlichen Velofahrten wie in einem Rausch. Vor allem wenn sie ohne Isabelle durch die stillen, von silbernem Mondlicht erhellten Straßen fuhr, fühlte sich Jo wundervoll erhaben, mutig, ja geradezu majestätisch!
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