Solang die Welt noch schläft (German Edition)
entdeckt«, sagte Isabelle und trank einen Schluck Limonade. »Er holt derzeit fast täglich früh am Morgen den Rover aus dem Schuppen, um eine Runde zu drehen. Wenn er mich wenigstens einladen würde, ihn zu begleiten!«, fügte sie mürrisch hinzu. »Ich frage mich wirklich, wozu er mir das Damenrad geschenkt hat, wenn ich es bloß im Hof fahren darf. Manchmal denke ich, es ging ihm gar nicht um mich, vielmehr wollte er mit seinem pompösen Geschenk und dem Auftritt auf der Velobahn bloß vor seinen Geschäftsfreunden angeben.«
Es war Anfang August, Isabelles Sommerferien hatten gerade begonnen, und die jungen Frauen saßen im untergehenden Sonnenlicht im Herrenhus’schen Garten bei einem Glas Limonade zusammen. Eigentlich hatte auch Clara kommen wollen, war dann aber doch nicht erschienen – wahrscheinlich verbrachte sie wieder einmal auch ihre freie Zeit in der Apotheke. Isabelles Eltern waren ausgegangen. Ausnahmsweise hatten sie nicht darauf bestanden, dass Isabelle sie begleitete, und so hatten sie ihre Ruhe.
Josefine biss sich auf die Unterlippe. Der Gedanke, dass Vater und Tochter einträchtig mit dem Velo durch die Stadt fuhren, gefiel ihr ganz und gar nicht. Viel lieber hätte sie wieder einmal eine Ausfahrt mit der Freundin gemacht! Doch nach dem Zwischenfall mit ihrem Vater vor einem Monat traute sich Isabelle nicht mehr, heimlich die Velos zu entwenden. Inzwischen hatte Josefine das Gefühl, vor lauter Sehnsucht nach dem Fahrtwind fast verrückt zu werden.
»Wenn wir wenigstens in die Sommerfrische fahren würden, so wie meine Schulkameradinnen! Aber nein, Vater ist derzeit in der Fabrik ›unabkömmlich‹. Er hat Mutter angewiesen, in den nächsten Wochen alle möglichen Picknicks und Kaffeegesellschaften zu organisieren und dabei die unverheirateten Herren einzuladen, die noch in der Stadt sind. Gestern war ein Freiherr von Salzfeld zu Besuch. Der Bursche hat seinem Namen alle Ehre gemacht. Er saß die meiste Zeit stumm da wie eine Salzsäule, und ich konnte mir den Kopf über unsere Konversation zerbrechen. Außerdem hatte er Mundgeruch«, erging sich Isabelle weiter in ihrer Litanei. »Wenn wir wenigstens Velo fahren könnten, das würde mich von der ganzen Misere ein wenig ablenken. Schlimmer kann es auch nicht sein, wenn einem die Luft zum Atmen fehlt!«
»Ich hätte eine Idee, wie wir unbehelligt Velo fahren könnten«, sagte Josefine abrupt. »Lass uns einen Veloverein nur für Frauen gründen!«
»Ein Veloverein nur für Frauen … Die Idee ist wirklich nicht schlecht«, sagte Isabelle sinnierend, nachdem Josefine ausgiebig von ihrem Besuch im Radfahrverein Schönefeld erzählt hatte. »Ich kann mir gut vorstellen, dass es außer uns noch etliche andere junge Frauen gibt, die ebenfalls nur heimlich das Velo besteigen. An Mitgliedern würde es bestimmt nicht mangeln.«
Josefines Augen leuchteten. »In einem Damenverein hätten wir alle endlich unsere Ruhe. Aber was ist mit den Kosten? Man müsste irgendwo eine leerstehende Halle mieten oder am besten gleich kaufen. Die Miete, der Unterhalt, eventuelle Umbauten, die notwendig wären – so ein Unterfangen verschlingt einiges an Geld. Mein Vater gibt mir zwar ein großzügiges Taschengeld, aber das reicht nie und nimmer, um solche Kosten zu decken. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei anderen jungen Damen sehr viel besser aussieht, ganz im Gegenteil«, fuhr Isabelle fort. »Nein, bei näherem Betrachten ist das wohl doch keine so gute Idee.«
Verzagtes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während in der mit wildem Wein bewachsenen Hauswand Hunderte von Wespen brummten. Irgendwann hielt Josefine die bedrückende Stille nicht länger aus. Herausfordernd schaute sie die Fabrikantentochter an.
»Ich hätte noch eine Idee, wie wir deinen Schulferien ein wenig mehr Würze verleihen könnten. Was würdest du davon halten, wenn wir die Velos einmal nach Mitternacht aus dem Schuppen holen? Zu dieser Zeit schläft dein Vater selig, er wird seinen Rover also gewiss nicht vermissen.«
»Nach Mitternacht, im Stockdunkeln willst du fahren?« Isabelle schaute sie ungläubig an.
»Sommernächte sind nie so finster wie die im Winter. Derzeit ist zudem Vollmond, und die Nächte sind sternenklar.« Jo strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Überleg doch mal, welche Vorteile eine Nachtfahrt mit sich bringt: Wenn die Stadt schläft, können wir viel länger fahren als morgens. Wir könnten endlich mal die Spree in östlicher
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