Solang die Welt noch schläft (German Edition)
schwer bepackt mit Putzmitteln, Farbtöpfen, Schmirgelpapier und einer Rolle festem Vorhangstoff wieder heraus. Ihre Einkäufe waren so umfangreich, dass Reutter einen Lehrjungen anwies, ihr zu helfen, die Sachen nach Hause zu tragen. »Nicht nach Hause«, sagte Isabelle. »Die Sachen müssen in den 1. Berliner Veloverein für Damen!«
Die nächsten Wochen verbrachten die jungen Frauen damit, die Kammer herzurichten. Weder Isabelle noch Irene hatten je einen Pinsel, geschweige denn einen Putzlappen in der Hand gehabt. Aber dank Jule, Irenes alter Freundin – mit ihr war sie einst so aufsehenerregend durch den Tiergarten geradelt –, kamen die Arbeiten dennoch gut voran. Denn Jules Eltern führten eine große Möbelschreinerei, in deren Werkstatt Jule und ihre Brüder aufgewachsen waren – dort hatte sie sich die eine oder andere Tätigkeit abgeschaut.
Jeden Nachmittag, wenn der Unterricht in der Höheren Mädchenschule zu Ende war, fuhren Isabelle und Irene direkt in ihr neues Vereinsheim, um dort zu pinseln, zu hämmern, Gardinen abzumessen und Sitzbezüge zuzuschneiden. Isabelle hielt Irene zwar noch immer für hochnäsig und arrogant, musste aber zugeben, dass die Großunternehmertochter über ungewöhnlich viel Ausdauer und Kraft verfügte und sich vor schweren Arbeiten nicht drückte. Und Irene, die die Familie Herrenhus in der Vergangenheit gern als Emporkömmlinge tituliert hatte, stellte nun fest, dass auch Isabelle fleißig war und zupacken konnte.
Jule, die im elterlichen Betrieb mitarbeitete, traf meist erst gegen Abend ein. Dann lobte oder rügte sie, verbesserte und trieb alle Arbeiten voran. Über die Freude, mit der die beiden anderen sich ans Werk machten, konnte sie nur müde lächeln – Jule wusste längst, wie befriedigend es war, Arbeit mit den eigenen Händen zu verrichten.
Die männlichen Vereinsmitglieder betrachteten die Aktivitäten der Frauen amüsiert und auch eine Spur herablassend. »Na, richtet ihr euer Puppenstübchen ein?«, hieß es mehr als einmal. »Wo stehen denn später die Nähmaschinen?«, fragte einer und erntete damit lautes Gelächter der anderen Männer. Als die jungen Frauen eines Tages in ihr zukünftiges Vereinsheim kamen, hatte irgendein Witzbold Werbeplakate des amerikanischen Nähmaschinenherstellers Singer aufgehängt. Niemand traute den Frauen dauerhaftes Interesse am oder gar eine Begabung fürs Radfahren zu.
Während sie den Raum herrichteten, hielten Isabelle und Irene außerdem nach zukünftigen Mitgliedern Ausschau. Nichts wäre schlimmer, als mit einem Verein ohne Mitglieder dazustehen! Jule war die Erste, die sich anmeldete. Sie brachte zwei weitere junge Frauen mit – beide besaßen eigene Velos, trauten sich aber wegen der vielen Anfeindungen nicht, auf den Berliner Straßen zu fahren. Als Nächste fragte eine von Isabelles und Irenes Klassenkameradinnen wegen einer Mitgliedschaft an. Sie war die Tochter eines französischen Diplomaten und kannte das Velofahren noch aus ihrer Zeit in Paris, wo Frauen wesentlich unbehelligter fahren konnten.
Verschwitzt und müde von der ungewohnten körperlichen Arbeit, saßen Isabelle und Irene spätabends auf ihren frisch bezogenen Stühlen an dem abgehobelten Tisch und dachten über die Vereinsstatuten nach: Wen wollten sie aufnehmen und wen nicht? Welche Ziele wollten sie mit ihrem Verein verfolgen, welche Rechte und Pflichten hatte jedes Vereinsmitglied zu erfüllen? Alles sollte Hand und Fuß haben und mindestens so professionell sein wie bei den Herren. Es sollten vorrangig Mitglieder der besseren Gesellschaft aufgenommen werden, darauf einigte man sich schnell. Der Besitz eines Velos war eine zweite Grundbedingung, auf die man kam. Besonders wichtig erschien den jungen Frauen außerdem die Frage nach einem passenden Namen für ihren Verein. Nach langen Diskussionen einigten sie sich auf Isabelles so schlichten wie passenden Vorschlag: »1. Berliner Veloverein für Damen«.
Und dann, im Sommer 1892, an einem strahlend schönen Sonntag im Juni, war es so weit: Der 1. Berliner Veloverein für Damen öffnete mit einem großen Einweihungsfest seine Pforten.
Clara warf einen letzten Blick in den Spiegel und war sehr zufrieden mit dem, was sie sah. Der violette Rock und die etwas hellere Bluse ergaben ein schmeichelndes Ensemble, das durch ein kleines rosenholzfarbenes Hütchen noch abgerundet wurde. Dank der frischen Farben wirkten ihr Teint nicht mehr ganz so blass und ihre Lippen nicht mehr ganz so
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