Solang die Welt noch schläft (German Edition)
blutleer wie in früheren Zeiten. Es war Gerhard gewesen, der sie ermutigt hatte, mehr Farben zu tragen und nicht immer nur das triste Hellgrau und Dunkelblau, das ihre Mutter bis dahin für sie ausgesucht hatte.
Clara trat einen kleinen Schritt zurück und betrachtete sich aus größerer Distanz. Vielleicht lag es gar nicht an den Farben, dass ihr Antlitz strahlte wie tausend Sonnen? War nicht vor allem Gerhards Heiratsantrag am gestrigen Abend schuld an ihrem Dauerlächeln und ihren vor Freude geröteten Wangen?
Clara seufzte tief und glücklich auf. Niemals in ihrem ganzen Leben würde sie diesen Augenblick vergessen …
Gerhard hatte sich vor sie auf den Boden gekniet, ihre Hand genommen und ihr tief in die Augen geschaut. Sie hatte sich gefühlt wie die Heroine in einem der französischen Romane von Balzac, Molière oder Victor Hugo, die sie und ihre Mutter so gern lasen.
»Willst du meine Frau werden?« Gerhards Stimme war fest gewesen, ohne jeglichen Zweifel an ihrer Antwort.
Ihr dahingehauchtes »Ja« war ihr dagegen richtig zurückhaltend vorgekommen, aber mehr hatte sie vor lauter Aufregung nicht zustande gebracht.
Gerhard war damit zufrieden gewesen. Ein wenig steif waren sie sich danach in die Arme gesunken, ehe sie zu ihren Eltern gingen, um die frohe Botschaft zu verkünden. Sophie Berg begann zu lachen und zu weinen, alles auf einmal. Anton Berg klopfte seinem zukünftigen Schwiegersohn immer wieder auf die Schulter. »Das müssen wir feiern! Gleich morgen lade ich euch ins feinste Lokal der Luisenstadt ein«, sagte er. Sie, Clara, hatte man bei alldem fast vergessen. Erst als sie zaghaft einwarf, dass Gerhard und sie am morgigen Sonntag schon eine Einladung hatten, war man wieder auf sie aufmerksam geworden.
»Die Einweihung eines Velozipeden-Vereins?« Ihre Mutter machte ein Gesicht, als hätte Clara von der Gründung eines Mopshundevereins gesprochen.
Lachend wollte Clara erklären, dass es sich dabei nicht um irgendeinen Verein handelte, sondern um den ersten Damenverein Berlins. Doch dazu kam sie nicht. Denn Gerhard nahm wieder ihre Hand und sagte: »Wenn es Claras Wunsch ist …« Ach, ihr war so warm ums Herz geworden! Endlich zählte auch einmal, was ihr am Herzen lag, dafür sorgte Gerhard schon.
»Außerdem kann es nicht schaden, mit der besseren Gesellschaft Berlins gesellschaftlich zu verkehren«, fügte er hinzu. »Velofahrer stürzen des Öfteren von ihren Gefährten. Sie schürfen sich die Knie auf, und manche brechen sich sogar ein Bein. Wer weiß, vielleicht kann ich Herrn Herrenhus, seine Familie und andere als Patienten für meine Praxis gewinnen? Arme Schlucker habe ich von Doktor Fritsche schließlich genug geerbt.« Er lachte einnehmend, als wollte er sie für diesen Satz um Verzeihung bitten.
Ach, wie sie sein Lachen liebte!
Kontakte mit der besseren Gesellschaft? Claras Mutter hatte zustimmend mit dem Kopf genickt. Natürlich mussten er und Clara zu diesem Einweihungsfest gehen! Dass sie die Einladung der Unternehmertochter Isabelle Herrenhus, über deren Verlobung mit dem Großfabrikantensohn Adrian Neumann derzeit heftig spekuliert wurde, zu verdanken hatte, zeige ja schon, welche Kreise in diesem Verein verkehrten.
Clara lächelte. Ha, Isabelle würde Augen machen, wenn sie erfuhr, dass auch bei ihr bald die Hochzeitsglocken läuteten! Selig warf sie ihrem Spiegelbild eine Kusshand zu. Die zukünftige Frau Doktor Gropius – gut sah sie aus. Clara schnappte ihr gobelinbesticktes Handtäschchen und lief die Treppe hinab.
Gerhard wartete auf sie.
»Diese Anlage sieht nicht gerade so aus, als wäre sie heute erst eröffnet worden. Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Gerhard Gropius und zeigte auf das große Portal, hinter dem eine ovale Velobahn zu sehen war. »1. Berliner Velozipeden-Verein – sogar das Schild hat schon Patina angesetzt.«
»Die Adresse stimmt aber.« Verunsichert schaute Clara noch einmal auf die Einladungskarte, die Isabelle ihr geschickt hatte. Von dem Gelände ertönten die Klänge eines Posaunenchors, auch Gelächter und Gesprächsfetzen waren zu hören. »Lass uns doch erst einmal eintreten.« Sie hielt einem jungen Burschen in blauer Livree ihre Einladung entgegen, woraufhin er sie das Portal passieren ließ.
»Einen schönen Tag, die Herrschaften!«
Gerhard Gropius nickte herablassend, dann sagte er leise zu Clara: »Fahnen, Blumenschmuck, ein Blasorchester – dies scheint eine ziemlich noble Angelegenheit
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