Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
hatte interessante Neuigkeiten. »Paris wird schon seit einigen Monaten belagert«, erzählte er. »Das wisst ihr ja sicher. Aber wie ich erfahren habe …« – er verfügte über außerordentlich gute Kontakte zu den höchsten Regierungskreisen in Berlin – »… will Bismarck nach einem endgültigen Sieg über Frankreich König Wilhelm zum Deutschen Kaiser ausrufen lassen. Sein Traum ist ja, wie jeder weiß, die deutsche Einheit. Ein Nationalstaat mit einem Monarchen, der die Rolle des integrierenden Staatsmannes übernimmt.«
»Und wo er weiterhin die politischen Fäden zieht, der alte Fuchs«, unterbrach ihn Hanno lachend. »Aber hast du eine Ahnung, wie das funktionieren soll bei all den eigenständigen deutschen Königen, Herzögen und Fürsten?«
»Seit längerer Zeit sind seine Diplomaten und Unterhändler schon unterwegs, um eben all diese deutschen Fürstlichkeiten dazu zu bringen, seinem Plan zuzustimmen. Wie ich höre, sind Bismarcks Leute sehr erfolgreich. Nur Bayern macht noch Schwierigkeiten. Aber seit Ministerpräsident Fürst Hohenlohe von Graf Bay-Steinberg abgelöst ist, scheinen die Verhandlungen voranzugehen.« Kölichen wartete, bis der Ober den nächsten Gang serviert hatte, dann sprach er weiter. »Man munkelt, dass Bismarck dem hochverschuldeten König Ludwig eine stattliche Summe in Aussicht gestellt hat, wenn seine Regierung zustimmt. Aber das darf natürlich nie bekannt werden.«
»Das ist ja doll! Ein Teufelskerl, dieser Bismarck.« Hanno war begeistert.
Kölichen musste lachen. »Ein fast ebenso großes Problem wie der bayerische König ist unser König Wilhelm. Er ist überhaupt nicht begeistert, Kaiser zu werden. Bismarck versucht mit allen Mitteln, ihm die Kaiserkrone schmackhaft zu machen.« Kölichen senkte die Stimme. »Es ist noch nicht offiziell. Aber gleich nach der Einnahme von Paris soll Wilhelm in Versailles gekrönt werden, im Beisein aller deutschen Fürsten.«
»Donnerwetter, wenn ihm das wirklich gelingt, Hut ab«, sagte Hanno.
»Es wird gelingen, glaub mir. Ich habe meine Quellen. Und was ich noch interessant finde«, fuhr Kölichen fort, »Bismarck begründet die Eile für die Krönung damit, dass nach altgermanischem Ritus die Könige gleich nach dem Sieg auf dem Schlachtfeld gekrönt wurden.«
Hanno konnte sich gar nicht beruhigen. »Doll finde ich das, doll.«.
Von Leopold kam ab und zu ein kurzes Lebenszeichen. »Ich bin versetzt worden in den Stab von General von Choltitz. Onkel Edwin wurde von der Westfront abberufen und greift die Franzosen jetzt von der Cote d’Azur aus an. Wie wir hören, ist er mit seiner Strategie sehr erfolgreich.« Ein andermal schrieb er: »Wir stehen kurz vor Paris. Der Krieg wird wohl bald vorbei sein.« Es sollte noch vier Wochen dauern, bis Leopold wieder zu Hause war.
Im Januar überschlugen sich die Ereignisse. Das Ostpreußische Tageblatt berichtete: »Am 15. Januar 1871 besetzten nach wochenlanger Belagerung die preußischen Truppen Paris unter dem Befehl von General Dietrich von Choltitz. Die Franzosen sind vernichtend geschlagen. Wie wir soeben aus höchsten Kreisen erfahren, wird König Wilhelm I. in Anwesenheit zahlreicher Fürstlichkeiten am 18. dieses Monats im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser gekrönt.«
»Donnerwetter«, rief Hanno, »dann scheint Bismarck Ludwig II. und unseren Wilhelm ja überzeugt zu haben. Doll finde ich das, einfach doll!«
Einige Tage danach, Carla kam etwas verspätet zum Frühstück, rief Hanno aufgeregt: »Komm, setz dich, mein Mädchen. Unser Wilhelm ist Kaiser. Die Zeitung berichtet heute ganz groß über die Krönung. Ich werde dir vorlesen.«
Nicht nur Carla, sondern auch Franz, der unbeweglich an der Anrichte stand, hörte gespannt zu. »Am 18. Januar 1871 um Punkt zwölf Uhr verließ König Wilhelm I. in einer einfachen Kutsche die Präfektur in Paris, um sich nach Versailles zu begeben. Vor dem Schloss empfing ihn die 1. Kompanie der Königsgrenadiere. Nachdem er die Ehrenkompanie abgeschritten hatte, empfing ihn der Kronprinz, und in Begleitung der anwesenden Fürstlichkeiten betrat er den berühmten Spiegelsaal des Schlosses. Dort waren bereits die Oberbefehlshaber, Generäle, Offiziere aus allen Waffengattungen – es waren mehr als fünfhundert – und zahlreiche hohe Beamte versammelt.«
»Bestimmt ist Leopold auch dabei«, rief Carla.
»Na hoffentlich«, sagte Hanno, »dann wird er uns sicher viel zu erzählen haben.« Er las weiter. »Ein militärischer Chor
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