Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
ich nichts erfahren. Du kennst ihn ja. Und pass auf deine Mutter auf. Sie soll jeden Abend ihr Schlafmittel nehmen, eine Messerspitze voll. Sag ihr das noch mal.« Es war weit nach Mitternacht gewesen, als Carla todmüde ins Bett gefallen war. Sie hatte kaum geschlafen. Immer wieder war sie aufgewacht, froh, den Albträumen zu entkommen, die sie quälten. Wie würde sie die lange Seereise überstehen, und was erwartete sie am Ende der Welt. Und wann würde sie wohl in ihr geliebtes Ostpreußen zurückkehren können?
Es war ein strahlender Morgen, als sie sich mit Lischens Hilfe für die Reise ankleidete. In dem großen Spiegel über ihrem Waschtisch sah sie ein graues Gesicht, mit dunklen Schatten um die Augen. »Ich sehe ja schrecklich aus, Lischen«, rief sie. »Gib mir bitte meine Puderdose. Ich möchte nicht, dass Buchenhain mich so in Erinnerung behält.« Nachdem sie Puder und etwas Rouge aufgelegt und die Lippen nachgezogen hatte, war sie mit ihrem Anblick einigermaßen zufrieden.
Vor dem Haus hatte sich das ganze Gesinde zum Abschied eingefunden, nach Rang und Stellung nebeneinander aufgereiht. An der Spitze stand der Gutsverwalter, Herr Schröder, dann kam der alte Franz, daneben Elfriede und Kurt mit Fritzchen und den erwachsenen Söhnen. Dann kamen die Stubenmädchen, Knechte und zum Schluss die Tagelöhner. Alle sahen aus wie aus dem Ei gepellt: das Hauspersonal adrett in den gestreiften Kleidern mit frisch gestärkten Schürzen und Häubchen, Knechte und Tagelöhner hatten sauber gewaschene Gesichter und Hände, die Haare waren mit Pomade oder Wasser glatt gekämmt.
Hanno hielt eine kleine Ansprache. »Wie ihr alle wisst, werden wir für eine Weile fort sein. Es wird sich für euch nichts ändern. Herr Schröder hat die erforderlichen Befugnisse, damit hier alles beim Alten bleibt. Wir wollen Buchenhain so wieder vorfinden, wie wir es heute verlassen.« Dann gaben er und Carla jedem die Hand zum Abschied.
Als sie die Kutsche bestiegen, kam Leopold im Galopp die Auffahrt heraufgeritten. »Ich wollte euch noch einmal umarmen«, rief er. »Lebt wohl, und kommt gesund wieder.«
Mit einem lauten »Hü, hü!« der Kutscher setzte sich der Tross in Bewegung, und Leopold ritt noch ein Stück neben ihnen her. Carla blickte sich immer wieder um, und durch einen Tränenschleier konnte sie sehen, wie ihnen alle mit ihren Taschentüchern und Mützen hinterherwinkten, bis ihre Kutsche in die Lindenallee einbog und sie nicht mehr zu sehen waren.
Es dauerte fast zwei Monate, bis auf Troyenfeld die erste Nachricht von Carla eintraf.
» Mein lieber Bruder, liebe Natascha und Feodora, mein Liebling, wir sind tatsächlich lebend hier in Portsmouth angekommen, der ersten Station unserer langen Seereise. Während der gesamten Überfahrt tobten wilde Stürme, die unser Schiff zum Schliggern brachten. Mir war von der ersten bis zur letzten Stunde der Fahrt übel. Ein Arzt, Doktor Gündefeld, der mit uns reiste, meinte, ich sei seekrank, und gab mir ein Mittel, das leider überhaupt nicht half. Hanno erging es besser. Er hat mit Gündefeld Schach gespielt und ordentlich gebechert. Wir sind nun hier für ein paar Tage in einem halbwegs komfortablen Gasthaus einquartiert. Dann geht unsere Reise weiter mit einem etwas größeren Schiff von ThomasCook. Man gibt uns keine genaue Auskunft, wann wir in Neuseeland ankommen werden. Es kommt auf die Windund Wetterverhältnisse an und kann bis zu fünf Monate dauern. Na denn, prost Mahlzeit! Da die Post genauso lange braucht, kann es ewig dauern, bis Ihr die nächste Nachricht von uns bekommt. Wenn ich überhaupt alles überstehe. Mir graust vor dieser langen Zeit auf See. Hanno lässt herzlich grüßen. Gebt Feodora einen dicken Kuss von mir, und seid herzlich umarmt von Eurer Carla. PS: Leopold, sag bitte Emma und Elfriede, dass ich von mir hören lasse, wenn wir angekommen sind.«
Leopold hatte Natascha den Brief vorgelesen. »Mein Gott, meine arme Schwester«, sagte er. »Seekrankheit ist etwas Schreckliches. Ich kenne das. Man denkt, man stirbt. Und nun muss sie das noch monatelang durchstehen. Ihr wäre es ja viel lieber gewesen, Hanno hätte den Posten abgelehnt. So weit weg von zu Hause …«
»Nun, dieses Schicksal teilt sie ja wohl auch mit anderen Frauen«, sagte Natascha kühl. »Eine Frau gehört an die Seite ihres Mannes. Das hast du mir ja unmissverständlich klargemacht.«
Leopold schwieg. Er wollte dieses Thema nicht mehr diskutieren.
»Woher kommt
Weitere Kostenlose Bücher