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Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)

Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)

Titel: Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Schulze-Lackner
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Natascha war mit ihrem Stickrahmen beschäftigt, während Leopold beobachtete, wie Feodora versuchte, ihrem Bruder das Laufen beizubringen. Sie stand hinter ihm und hielt ihn mit beiden Händen. »Fein, wie du das machst, Rüdilein, fein«, rief sie entzückt. »Schau mal Papa, Rüdi kann schon laufen.«
    Wie unterschiedlich sie doch sind, unsere Kinder , dachte Leopold. Feodora ist wild und ungestüm und von strotzender Gesundheit und Rüdiger so zart und blass .
    »Feda ist ein roter Teufel und Rüdiger ein blonder Engel«, hatte Natascha kürzlich gesagt. Im Grunde hatte sie recht, nur ihr Ton gefiel Leopold nicht. Er verstand nicht, was sie gegen ihre Tochter hatte, dieses entzückende Wesen, das alles tat, um ihrer Mutter zu gefallen. Wieder durchflutete ihn eine Welle tiefer Gefühle für seine Kinder. Er liebte Rüdiger sehr, aber Feodora war sein Herzenskind.
    Alfons’ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Herr Graf, die Post.« Auf der zusammengefalteten Zeitung lag ein dickes Kuvert.
    »Endlich, ein Brief von Carla«, rief Leopold aufgeregt und legte die Zeitung achtlos beiseite. Er begann vorzulesen.
    » Dunedin, 15. Januar 1873
    Meine Lieben zu Hause, während ich schreibe, ist bei Euch in Ostpreußen noch tiefster Winter. Ich sehe Nataschavor mir, wie sie in ihrem traumhaften grauen Samtkleid mit der Tournüre auf dem Schlossteich mit Dir, meinem lieben Bruder, und Euren Gästen Schlittschuh fährt und Alfons Euch Glühwein und heißen Grog serviert, um Euch aufzuwärmen. Ach, wie ich das vermisse! Aber wenn ihr diesen Brief lest, ist schon wieder Frühling, der Teich längst aufgetaut, und die Schwäne ziehen dort ihre Bahnen. Rüdiger beginnt sicher bereits zu laufen …«
    Leopold unterbrach seine Lektüre. »Ist das nicht erstaunlich, es ist, als könnte sie hellsehen«, sagte er lachend und deutete auf seinen Sohn, der auf wackeligen Beinchen, quiekend vor Vergnügen und nun ohne Hilfe seiner Schwester auf ihn zutappte. Fast hätte er die ausgestreckte Hand seines Vaters erreicht, aber kurz davor fiel er um und fing vor Schreck an zu schreien.
    Wütend schmiss Natascha ihren Stickrahmen auf den Boden und rannte zu dem weinenden Kind. »Könnt ihr nicht aufpassen, du und deine blöde Tochter«, schrie sie. »Es hätte ja sonst etwas passieren können.«
    Leopold erstarrte. »Bitte, mäßige dich, Natascha!«, sagte er zornig. »Der Junge wird noch öfter in seinem Leben hinfallen, und du wirst niemandem die Schuld daran geben können.« Feodora drückte sich ängstlich an ihren Vater.
    »Komm auf meinen Schoß, mein Liebling«, sagte Leopold tröstend. »Deine Mutter hat es gewiss nicht böse gemeint. Sie war nur ein wenig erschrocken. Ich werde dir jetzt den Brief von deiner Tante Carla vorlesen.«
    Während Natascha versuchte, ihren Sohn von weiteren Gehversuchen abzuhalten, fuhr Leopold fort. »Während ich mir also vorstelle, wie ihr Euch im Schnee vergnügt, sitze ich beim Schreiben dieses Briefes in meinem üppig blühendenGarten, umgeben von Magnolienbäumen mit übergroßen Blüten, verschiedenfarbigen Orchideen, Pflanzen, die einen betörenden Duft verströmen, aber deren Namen ich immer noch nicht kenne, und laut zwitschernden Vögeln. Mein Papagei begrüßt mich immer noch mehrmals täglich mit ›Guten Tag und herzlich willkommen‹ und weigert sich hartnäckig, etwas Neues dazuzulernen. Die Stadt Dunedin ist trotz allen Fortschritts ziemlich schrecklich. Die Straßen sind verdreckt, es stinkt nach Unrat, einfach grauenhaft. Allzu oft zieht es mich nicht dorthin. Dafür ist das Land voller Naturschönheiten: baumhohe Farne, immergrüne Buchen …«
    In dem Moment stürzte Horst Kölichen herein. Bleich sank er auf einen Stuhl. »Ihr wisst es offensichtlich noch nicht?« Er wischte sich mit seinem Taschentuch das schweißnasse Gesicht ab.
    »Sag schon, was ist passiert. Ist jemand gestorben?« Leopold nahm Feodora von seinen Knien. »Ruf Alfons, mein Herz«, sagte er, »und bitte ihn, Onkel Horst eine Erfrischung zu bringen.«
    »Ein Schnaps wäre mir lieber«, stöhnte Kölichen.
    »Ja, um Gottes willen, was ist denn los?« Auch Natascha sah ihn jetzt gespannt an.
    »Die Börse ist zusammengebrochen. Die Kurse fallen ins Bodenlose. Ich hoffe, du hast meinen Rat beherzigt …«
    Leopold sah ihn entsetzt an. »Nein, ich …«
    »O Gott, die meisten Banken sind bereits zahlungsunfähig! Auch das Geld von Hanno ist weg!«
    Niemand von ihnen ahnte, dass die Euphorie der Gründerjahre

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