Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
begleitete die Zeremonie. Feodora war in Tränen aufgelöst, ihr Vater hielt sie fest im Arm. Natascha stand aufrecht und tief verschleiert am Grab. Erst als der kleine, weiße, mit Lilien bedeckte Sarg in die Erde gelassen wurde, schwankte sie leicht. Dann schlug sie ihren Schleier zurück, warf eine weiße Rose hinterher und rief ihrem Sohn auf Russisch ein Lebewohl nach. Ihr Gesicht sah wie gemeißelter Marmor aus, tränenlos, versteinert. Dann schlug sie den Schleier wieder über ihr Gesicht, drehte sich um und ging langsam zurück zum Schloss. Ihren Mann und ihre Tochter ließ sie allein am offenen Grab zurück, um die endlosen Beileidsbezeigungen der Trauergäste entgegenzunehmen. Zu dem Empfang der Gäste im Schloss erschien Natascha nicht.
Man verabschiedete sich bald, die Stimmung war zu gedrückt. Auch im Gasthof, wo das Gesinde geladen war, wollte keine rechte Stimmung aufkommen, und was ganz ungewöhnlich war: An diesem Abend wurde nicht getanzt.
Leopold bat seinen Freund Grüben nicht, ihm die letzten Worte seiner Frau zu übersetzen. Es interessierte ihn nichtmehr. Mit seinem Sohn war auch die Liebe zu seiner Frau gestorben.
Das Mitgefühl der ganzen Grafschaft gehörte Leopold und Feodora. Für Natascha hatten die meisten nur Verachtung übrig. Wie konnte eine Frau sich nur so benehmen! Und die Geschichten, die durch die Schlossmauern nach außen drangen, waren nicht dazu angetan, ihre Meinung über sie zu ändern. Sie blieb für immer die Fremde, die Russin, herz- und gefühllos.
Als Else weinend mit ihrem geschnürten Bündel bei Elfriede in der Küche erschienen war, hatte die fast einen Herzanfall bekommen. »Wat hat se dir? Rausjeschmissen?« Ihr gewaltiger Busen wogte vor Empörung auf und ab. »Du sollst schuld sein am Tod von dem kleenen Jrafen?« Elfriede verstand die Welt nicht mehr. »Du, die du dir aufjeopfert hast für die beeden Kleenen? Nu nee nich, ik kann et nich jloben.« Sie goss zwei große Gläser randvoll mit ihrem besten Likör. »Trink dat mal, Elschen«, sagte sie. »Du musst dir beruhigen und ik och.«
Frau Steinle war dazugekommen und kurz darauf Fräulein von Pulkendorf, die am ganzen Leib vor Aufregung und Wut zitterte. »Diese Frau hat den Verstand verloren«, sagte sie. »Ich verstehe ja ihren Schmerz. Aber was sie da eben ihrer armen Tochter angetan hat … Und der Else die Schuld an Rüdigers Tod zu geben … Nein, das ist wirklich die Höhe.« Nachdem auch sie zur Beruhigung ein Glas Likör getrunken hatte, erfuhr Elfriede das ganze Ausmaß der schrecklichen Szene.
»Errbarrmunk«, rief sie immer wieder. »Dat arme Fedachen!« In allen Einzelheiten musste Fräulein von Pulkendorf erzählen, wer was gesagt hatte, und nicht nur Elfriede, auch Frau Steinle war entsetzt.
Else war in Tränen aufgelöst. »Wo soll ik denn jetzt hin. Zu Hause ham se doch jar keenen Platz nich mehr für mich?«
»Du bleibst erst einmal hier«, entschied Frau Steinle, »und machst dich in der Küche nützlich. Ich nehme das auf meine Kappe.«
»Und ich werde Doktor Grüben bitten, sich nach einer Stelle für dich umzusehen«, mischte sich Fräulein von Pulkendorf ein. »Außerdem werde ich den Grafen bitten, dir ein erstklassiges Zeugnis auszustellen. Du hast es wirklich verdient.«
»Danke«, sagte Else, die immer noch schluchzte. »Aber ik hab doch dat Fedachen so lieb, dat arme Kleinerchen.«
»Ich bin ja auch noch da«, beruhigte sie Fräulein von Pulkendorf. »Mich wird die Gräfin nicht so schnell los.«
Bald darauf fand Doktor Grüben für Else bei einer kinderreichen Insterburger Familie eine Stelle, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen sollte. Der Hauslehrer Herr Kranz war zum Wintersemester nach Königsberg zurückgekehrt, und man machte keine großen Anstrengungen, einen Ersatz für ihn zu finden. So übernahm, ohne dass viel darüber gesprochen wurde, die Gouvernante die Pflichten des Hauslehrers. Feodora war jetzt neun Jahre alt, konnte lesen, schreiben, rechnen und sprach fließend Französisch und Russisch. Es machte Fräulein von Pulkendorf große Freude, dieses aufgeweckte und liebe Kind für Dinge zu interessieren, die sie selbst begeisterten.
Der Tod Rüdigers und das plötzliche Verschwinden von Else, die für sie mehr Spielgefährtin als Dienstmädchen gewesen war, hatten Feodora in eine vorübergehende Schwermut fallen lassen. Albträume plagten sie, und oft lag sie nachtswach, war sie es doch nicht gewohnt, allein zu schlafen. Sie litt unter
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