Solange am Himmel Sterne stehen
Schon im Vel’ d’Hiv, nur ein paar Blocks entfernt vom Eiffelturm, in dessen Schatten sie ihr ganzes kurzes Leben verbracht hatten? Oder später, in den überfüllten, luftlosen Eisenbahnwaggons auf dem Weg zu Lagern wie Drancy oder Beaune-la-Rolande oder Pithiviers? Oder schafften sie es bis nach Auschwitz, nur um dort in einer streng geordneten Reihe in eine Gaskammer geführt zu werden, wo sie mit Sicherheit voller Angst um ihren letzten Atemzug gerungen hatten? Hatten sie laut geweint? Hatten sie begriffen, was mit ihnen geschah?
Maman und Papa. Waren sie schon im Vel’ d’Hiv voneinander getrennt worden oder erst, als sie aus Frankreich weggebracht wurden? Wie hatte Papa es ertragen, der Familie entrissen zu werden, die er stets so entschlossen beschützt hatte? Hatte er sich zur Wehr gesetzt? War er von den Wachleuten geschlagen worden, geprügelt wegen seines Ungehorsams? Oder war er widerstandslos mitgegangen, bereits ergeben in die Sinnlosigkeit all dessen? War Maman allein gelassen worden mit den um sie kauernden Kindern, um die entsetzliche Wahrheit wissend, dass sie sie nicht länger beschützen konnte? Wie musste man sich fühlen, wenn man begriff, dass man sein Schicksal nicht mehr in der Hand hatte, die Kinder nicht mehr beschützen konnte, für die man bereitwillig sein Leben gegeben hätte?
Hélène. Es brach Rose jedes Mal das Herz, wenn sie an ihre ältere Schwester dachte. Was, wenn sie sich mehr bemüht hätte, an ihre Vernunft zu appellieren? Hätte sie sie retten können, wenn es ihr nur gelungen wäre, sie zu überzeugen, dass die Welt den Verstand verloren hatte und völlig aus den Fugen war? Hatte es Hélène in ihren letzten Augenblicken bereut, nicht auf Rose gehört zu haben? Oder hatte sie sich bis zuletzt an die Hoffnung geklammert, dass sie vielleicht nur zur Arbeit und nicht in den Tod geschickt wurden? Irgendwie stellte sich Rose immer vor, dass sie im Schlaf dahingeschieden war, friedlich, allein, obwohl sie von den Geistern wusste, dass ihr Ende vermutlich ganz anders gewesen war. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wie Hélène angeblich zu Tode geprügelt worden war, nur weil sie zu krank zum Arbeiten war, musste Rose auf die Toilette stürzen, um sich zu übergeben, und konnte danach tagelang keine Mahlzeit mehr bei sich behalten.
Claude. Erst dreizehn, hatte er sich so bemüht, erwachsen zu sein, so zu tun, als würde er die Dinge verstehen, die die Erwachsenen verstanden. Aber er war noch ein Kind gewesen, als Rose ihn das letzte Mal sah. War er in den wenigen Tagen im Vel’ d’Hiv zu dem Erwachsenen geworden, der er immer sein wollte? War er gezwungen worden, Dinge zu verstehen, die er noch etliche Jahre nicht hätte wissen sollen? Hatte er versucht, die jüngeren Kinder oder seine Schwester oder seine Mutter zu beschützen? Oder war er ein Kind geblieben, voller Angst vor dem, was geschah? Hatte er es auf einen Transport nach Auschwitz geschafft? Hatte er dort noch eine Weile überlebt, oder war er gleich bei seiner Ankunft aus der Reihe gezerrt worden, als zu jung oder zu klein zum Arbeiten beurteilt, und sofort in die Gaskammer geschickt worden? Was hatte er mit seinem letzten Atemzug gesagt? Was war sein letzter wacher Gedanke gewesen?
Alain. Der, den Rose am meisten liebte. Und der, der alles verstanden hatte, obwohl er erst elf war. Ihr Mitgefühl galt am allermeisten ihm, denn ohne den Mantel des Leugnens, in den sich die anderen zu hüllen vermochten, gab es keine Möglichkeit, den Schmerz zu betäuben. Er musste ihn jeden Augenblick empfunden haben, denn er verstand alles, verstand, was geschah, glaubte Jacobs eindringlichen Warnungen. Hatte er Angst gehabt? Oder war er in jenen Augenblicken erwachsen geworden und hatte entschieden, seinem Schicksal mit erbittertem Mut entgegenzutreten? Er war zäher als Rose, zäher als sie alle. Hatte er sich diese Tapferkeit zunutze gemacht, um sich gegen den Terror zu erheben? Rose war sich sicher, dass er nicht lange überlebt hatte; er war viel kleiner als Claude, sehr klein für sein Alter, und kein Wachmann bei klarem Verstand hätte einen solch kleinen Jungen für die Zwangsarbeit ausgewählt. Wenn Rose nachts die Augen schloss, sah sie oft Alains kleines Gesicht, die Augen düster, die rosigen Wangen eingefallen, sein schönes blondes Haar abrasiert, während er inmitten eintausend anderer Kinder seines Schicksals harrte, in der kalten Finsternis einer Gaskammer irgendwo in Polen.
Und dann war da Jacob. Es war
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