Solange am Himmel Sterne stehen
fast siebzig Jahre her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und doch hatte Rose sein Gesicht noch immer so klar vor Augen, als hätten sich ihre Wege erst gestern getrennt. Sie stellte ihn sich oft so vor, wie sie ihn am ersten Tag gesehen hatte, als sie sich kennenlernten, im Jardin du Luxembourg im Winter. Seine tänzelnden grünen Augen, sein dichtes braunes Haar, die Art, wie sie einander angesehen und in diesem allerersten Augenblick gewusst hatten, was sie gefunden hatten. In ihren düstersten Momenten konnte sie sich sein Gesicht vorstellen, tapfer und entschlossen, während er die Qualen des Vel’ d’Hiv ertrug oder als er auf einen Transport zu einem Durchgangslager geworfen wurde oder als er Auschwitz erreichte. Aber im Gegensatz zu den anderen konnte sie sich bei ihm nicht vorstellen, wie er starb. Es war seltsam, dachte sie, und sie fragte sich, ob es ihr Verstand war, der sie auf diese Weise schützte, obwohl sie gar nicht geschützt werden wollte. Sie wollte den Schmerz seines Todes spüren, denn sie hatte ihn verdient.
Aber das waren nicht die einzigen Momente ihres Lebens, zu denen Rose zurückkehrte, während sie immer weiter aus der Welt driftete. Sie dachte auch an die Augenblicke, die es seitdem gegeben hatte, an die wenigen glücklichen Momente im Laufe der Jahre, als ihr Herz von Liebe und Freude erfüllt gewesen war, so wie damals, als sie ein junges Mädchen war. Und während sie hier in den Tiefen ihres Komas durch die Finsternis schwebte, dachte sie an einen kalten Morgen im Mai 1975 zurück, eine ihrer liebsten Erinnerungen.
Als Rose an jenem Morgen aufgewacht war, hatte sie festgestellt, dass Ted bereits zur Arbeit gefahren war. Im Allgemeinen war sie lange vor Sonnenaufgang wach, aber in jener Nacht hatten ihre Albträume sie heimgesucht, wie sie es mitunter taten, und sie bis fast sechs Uhr morgens fest im Griff behalten. Wenn sie so schlief, ließ Ted sie ruhen und rief Josephine an, damit sie anstelle ihrer Mutter die Bäckerei aufsperrte. Er verstand nicht, dass sie nicht ruhte, sondern benommen in dem Grauen taumelte, aus dem sie nie einen Ausweg fand. Und da sie ihren Mann liebte, sagte sie ihm nichts davon. Er dachte, indem er sie geheiratet und ihr ein schönes Leben geboten hatte, hätte er ihr geholfen, die Vergangenheit verschwinden zu lassen, wie sie es wollte. Sie konnte es nicht über sich bringen, ihm zu sagen, dass in den dreiunddreißig Jahren, seit sie ihre Liebsten zuletzt gesehen hatte, die Erinnerungen, echte oder eingebildete, kein bisschen verblasst waren.
Rose hatte sich an jenem Morgen im Spiegel angestarrt. Mit fünfzig war sie noch immer schön, auch wenn sie selbst sich nicht mehr so gesehen hatte, seit Jacob sie das letzte Mal angesehen hatte. In seinen Augen war sie etwas Besonderes gewesen. Ohne ihn war sie dahingewelkt wie eine Blume ohne Sonnenlicht.
Fünfzig Jahre , dachte sie, während sie ihr Spiegelbild betrachtete. An diesem Tag war ihr Geburtstag, aber das wusste niemand außer ihr. Auf dem Visum, mit dem sie nach Amerika gekommen war, mit der Identität, die nicht ihre eigene war, stand, dass sie zwei Monate später geboren war, im Juli. Am 16. Juli, um genau zu sein, eine Ironie, die sie niemals vergessen würde, denn das war der Tag, an dem ihre Familie abgeholt worden war. Sie wusste, dass Ted und Josephine am 16. Juli einen Kuchen und ein schönes Abendessen für sie bereithalten würden, und sie würden »Happy Birthday« singen, und Rose würde lächeln und ihre Rolle gut spielen. Aber der heutige Tag gehörte nur ihr. Es war der Tag, an dem Rose Picard geboren wurde. Doch Rose Picard war 1942 gestorben.
Rose mochte keine Geburtstage. Wie könnte sie auch? Jeder neue Geburtstag entfernte sie weiter von der Vergangenheit, weiter von dem Leben, das sie geführt hatte, bevor die Welt zusammenbrach. Und in den letzten Jahren hatte sie sich vor Traurigkeit verzehrt angesichts der Erkenntnis, dass sie älter wurde, als irgendeiner aus ihrer Familie je geworden war. Papa war fünfundvierzig gewesen, als er abgeholt wurde. Selbst wenn er noch zwei Jahre in Auschwitz überlebt hatte, was, wie sie wusste, unwahrscheinlich war, war er nicht älter als siebenundvierzig geworden. Maman war 1942, als Rose sie das letzte Mal gesehen hatte, erst einundvierzig gewesen. Ihre Mutter war Rose damals so alt vorgekommen, aber jetzt erschien ihr einundvierzig jugendlich. Sie hätte nie gedacht, dass ihre Mutter ihr in der Blüte ihrer Jahre entrissen werden
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