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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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sage ich. »Ich weiß. Hör zu, ich weiß es zu schätzen.«
    Wir schweigen einen Moment, und dann sagt Gavin: »Wovon hat sie denn da eigentlich geredet? Kann ich irgendwie helfen?«
    Ich lächele ihn an. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen«, sage ich wieder. »Aber es ist nichts.«
    Er blickt, als ob er mir nicht glaubt.
    »Es ist eine lange Geschichte«, stelle ich klar.
    Er sieht mich an. »Ich habe Zeit.«
    Ich sehe auf meine Armbanduhr. »Aber du wolltest doch irgendwohin, oder?«, frage ich. »Du bist gekommen, um ein bisschen Gebäck mitzunehmen.«
    »Ich hab’s nicht eilig«, sagt er. »Aber ein Dutzend Kekse nehme ich gern mit. Die mit Cranberrys und weißer Schokolade. Wenn du nichts dagegen hast.«
    Ich nicke und lege die restlichen Cape Codder Kekse aus der Vitrine behutsam in eine blassblaue Schachtel, auf der in weißer Schnörkelschrift N o rdstern-Bäckerei, Cape Cod steht. Ich binde sie mit einer weißen Schleife zu und reiche sie ihm über die Theke.
    »Also?«, hakt Gavin nach, während er mir die Schachtel abnimmt.
    »Willst du es wirklich hören?«
    »Wenn du es mir erzählen willst.«
    Ich nicke. Auf einmal wird mir bewusst, dass ich wirklich gern einem anderen Erwachsenen erzählen will, was los ist. »Also, meine Großmutter hat Alzheimer«, beginne ich. Und die nächsten fünf Minuten, während ich Törtchen, Croissants, Baklava, Muffins und Halbmonde aus der Vitrine nehme und in luftdichte Behälter für das Gefrierfach oder in Schachteln für das Frauenhaus der Kirche verpacke, erzähle ich Gavin, was Mamie gestern Abend gesagt hat. Gavin hört gebannt zu, aber sein Kiefer klappt herunter, als ich ihm erzähle, wie Mamie Teile des Sterntörtchens ins Meer geworfen hat.
    Kopfschüttelnd sage ich: »Ich weiß, das klingt verrückt, oder?«
    Er schüttelt ebenfalls den Kopf mit einer seltsamen Miene. »Nein, überhaupt nicht. Gestern war der erste Tag von Rosch ha-Schana.«
    »Okay«, sage ich langsam. »Aber was hat das mit irgendetwas zu tun?«
    »Rosch ha-Schana ist das jüdische Neujahrsfest«, erklärt Gavin. »Da ist es bei uns üblich, für eine kleine Zeremonie namens Taschlich an ein fließendes Gewässer – oder ans Meer – zu gehen.«
    »Du bist Jude?«, frage ich.
    Er lächelt. »Mütterlicherseits«, sagt er. »Ich wurde sozusagen halb jüdisch, halb katholisch erzogen.«
    »Oh.« Ich sehe ihn nur an. »Das habe ich nicht gewusst.«
    Er sieht mich an. »Jedenfalls, das Wort Taschlich bedeutet im Grunde so viel wie ›wegwerfen‹.«
    Auf einmal kommt mir der Ausdruck bekannt vor. »Ich glaube, meine Großmutter hat gestern Abend so etwas gesagt.«
    Er nickt. »Bei dieser Zeremonie werden Krümel ins Wasser geworfen, um das Abschütteln unserer Sünden zu symbolisieren. Im Allgemeinen Brotkrümel, aber ich nehme an, Kuchenkrümel erfüllen den Zweck auch.« Er hält kurz inne und fügt dann hinzu: »Meinst du, das könnte es sein, was deine Großmutter getan hat?«
    Ich schüttele den Kopf. »Das kann nicht sein«, sage ich. »Meine Großmutter ist katholisch.« Während mir die Worte über die Lippen kommen, fällt mir auf einmal wieder ein, dass zwei der Leute, die ich heute in Paris erreicht habe, mir rieten, bei Synagogen anzurufen.
    Gavin zieht eine Augenbraue hoch. »Bist du sicher? Vielleicht war sie nicht immer katholisch.«
    »Aber das ist doch verrückt. Wenn sie Jüdin wäre, dann wüsste ich das doch.«
    »Nicht unbedingt«, meint er. »Meine Großmutter mütterlicherseits, meine Nana, hat die Schoah überlebt. Bergen-Belsen. Sie hat ihre Eltern und einen ihrer Brüder verloren. Ihretwegen habe ich mit fünfzehn angefangen, ehrenamtlich mit Überlebenden zu arbeiten. Manche von ihnen sagen, dass sie für eine Weile ihre Wurzeln aufgegeben haben. Es war schwer für sie, daran festzuhalten, was sie gewesen waren, nachdem ihnen alles genommen worden war. Vor allem für diejenigen, die als Kinder von christlichen Familien aufgenommen wurden. Aber letztendlich sind sie alle zum Judentum zurückgekehrt. Als würden sie nach Hause kommen.«
    Ich starre ihn nur an. »Deine Großmutter war eine Holocaust-Überlebende?«, wiederhole ich, während ich versuche, eine ganz neue Seite von Gavin zu begreifen. »Und du hast früher mit Überlebenden gearbeitet?«
    »Das tue ich noch immer. Ich arbeite einmal die Woche in dem jüdischen Pflegeheim in Chelsea.«
    »Aber das ist eine zweistündige Fahrt«, sage ich.
    Er lächelt. »Dort hat meine Großmutter gelebt, bis sie

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