Solange am Himmel Sterne stehen
passen könnte, aber bisher war der älteste Mann, den ich gesehen habe – ein Mann, der einen kleinen schwarzen Hund ausführte –, kaum älter als sechzig. Ich laufe den Park rasch der Länge nach ab, starre in die Gesichter der entgegenkommenden Leute, aber es ist niemand da, der Alain sein könnte. Schweren Herzens seufze ich und verlasse den Park in der Richtung, aus der ich gekommen bin. Allmählich dämmert mir, dass ich ihm vielleicht niemals begegnen werde, weder hier noch sonst irgendwo. Ich kämpfe gegen ein Gefühl abgrundtiefer Enttäuschung an – ich will mich noch nicht geschlagen geben.
Ich schlendere in Richtung Osten, um ein bisschen Zeit totzuschlagen, bevor ich noch einmal zu der Adresse zurückkehre, die Monsieur Berr mir gegeben hat. Ich gehe um ein paar Ecken, vorbei an Wohnhäusern und Geschäften, bis ich auf einmal in einer schmalen Straße voller Leute stehe, die in und aus Designerläden huschen. Rue des Rosiers, lese ich auf einem Straßenschild. Ich schlendere die Straße hinunter, während ich auf eine verwirrende Mischung aus anscheinend uralten Metzgereien, Buchhandlungen und Synagogen mit modernen Bekleidungsgeschäften dazwischen starre.
Vor einer kleinen Fassade mit einem Davidstern und dem Wort synagogue , das im Französischen offenbar dasselbe ist wie im Englischen, bleibe ich unvermittelt stehen. Mein Herz hämmert, während ich zitternd eine Hand ausstrecke, um die Außenmauer zu berühren. Ich frage mich, wie lange sie wohl schon hier steht und ob meine Großmutter irgendwann einmal vielleicht hier gebetet hat.
Während ich so dastehe, in Gedanken an die Vergangenheit versunken, zieht mich auf einmal ein vertrauter Geruch in die Gegenwart zurück. In der Luft liegt ein hauchzarter Duft der buttrigen, mit Zimt gewürzten und mit Feigen und Dörrpflaumen gefüllten Sterntörtchen, die ich jeden Tag in meiner eigenen Bäckerei backe.
Als ich mich langsam umwende, stehe ich vor einer dunkelroten Ladenfassade mit großen Schaufenstern, die von Broten und Gebäckstücken überquellen. Eine Bäckerei. Ich blinzele ein paarmal, bevor ich, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, über die Straße und durch die Ladentür schwebe.
Der Laden ist voller Leute. Auf der rechten Seite befindet sich eine lange Feinkostvitrine mit Fleisch und fertigen Salaten; und auf der linken ist eine schier unendliche Auslage mit Bagels, Käsekuchen, Torten, Törtchen und Gebäckstücken, alle mit kleinen Schildern versehen, die ihre Namen auf Französisch und ihren Preis in Euro angeben.
Ich stehe wie angewurzelt da, während ich die Blicke über die vertraute Auswahl schweifen lasse. Ich sehe den Zitronen-Trauben-Käsekuchen, der eine der Spezialitäten der Nordstern-Bäckerei ist, und einen köstlich aussehenden Strudel, der genauso aussieht wie der, der in meiner Bäckerei immer ausverkauft ist; und als ich einen Schritt näher herantrete, wird mir klar, dass es praktisch derselbe ist; er ist mit Äpfeln, Mandeln, Rosinen, kandierten Orangenschalen und Zimt gefüllt, genau wie ich ihn mache. Es gibt sogar ein Roggensauerteigbrot genau wie das, mit dem ich vor zwei Jahren bei der Umfrage der Cape Cod Times zu den »Besten Broten am Cape« große Ehre eingefahren habe.
Und dort, im Schaufenster, liegen Scheiben von etwas, was sie hier Ronde des Pavés nennen. Ich kenne sie als kleine, einzeln gebackene Törtchen mit einer sternförmigen Gitterkruste obenauf, aber als ich mich hinunterbeuge, um mir die Scheiben genauer anzusehen, ist die Füllung unverkennbar: Mohn, Mandeln, Trauben, Feigen, Dörrpflaumen und Zimtzucker. Genau wie Mamies geliebte Sterntörtchen.
» Que puis-je pour vous ?«, ertönt eine schrille französische Stimme hinter mir, und ich wende mich wie benebelt langsam um.
»Äh, ich spreche kein Französisch«, stammele ich. »Es tut mir leid.« Mein Herz rast noch immer.
Die Frau, die etwa in meinem Alter zu sein scheint, lächelt. »Kein Problem.« Sie wechselt nahtlos in ein akzentuiertes Englisch über. »Wir haben hier viele Touristen. Was darf es sein?«
Ich deute zitternd auf ein Stück Ronde des Pavés. Sie will es eben schon für mich einpacken, aber ich strecke einen Arm aus, um sie aufzuhalten. Ich spüre, wie meine Hand zittert, als sie ihren Arm berührt. Sie sieht verblüfft auf.
»Woher stammen diese Rezepte?«, frage ich sie.
Sie legt die Stirn in Falten und sieht mich misstrauisch an. »Das sind alte Rezepte meiner Familie, madame «, sagt sie.
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