Solange am Himmel Sterne stehen
damit seine eigene Familie in Gefahr zu bringen. Daher hat Alain auf der Straße geschlafen, und manchmal haben ihm die Nonnen von der Kirche etwas zu essen gegeben. Er wäre jetzt achtzig, falls er noch am Leben ist. Andererseits bin ich selbst dreiundneunzig, meine Liebe. Und ich werde in absehbarer Zeit nicht aufgeben.«
Er lächelt darüber. Ich bin zu perplex, um etwas zu erwidern.
»Der Bruder meiner Großmutter«, murmele ich. »Wissen Sie, wo er ist?«
Monsieur Berr greift nach einem Notizblock. »Haben Sie einen Stift dabei?«, fragt er. Ich nicke und krame in meiner Handtasche. Er kritzelt etwas auf ein Blatt Papier, reißt es ab und reicht es mir. »Das ist die Adresse, die er mir 2005 gegeben hat. Das ist im Marais, im jüdischen Viertel, in der Nähe der Place des Vosges. Dort habe ich ihn beim Schachspielen getroffen.«
»Das ist ganz in der Nähe meines Hotels«, sage ich zu ihm. Ich sehe auf die Adresse, die er mir gegeben hat: 27, Rue du Foin, no. 2B. Ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken.
»Na dann«, sagt Monsieur Berr. »Sie sollten jetzt gehen. Die Vergangenheit wartet auf niemanden.«
12
Ich bin starr vor Fassungslosigkeit, als ich Monsieur Berr Adieu sage und die Treppe hinuntereile. Meine Füße tragen mich zurück zur Seine, wo ich mir an der Hauptstraße ein Taxi winke und dem Fahrer den Zettel zeige, den Monsieur Berr mir eben gegeben hat. Der Fahrer knurrt zur Antwort und fährt von der Bordsteinkante los. Er schießt zwischen den Fahrspuren hin und her, nimmt eine Brücke über die Seine und schwenkt zurück nach Osten, parallel zum Fluss, während ich durchs rechte Fenster zusehe, wie die beiden Türme von Notre-Dame immer näher kommen. Schließlich biegt er nach links ab und hält nach etlichen Kurven und Biegungen mit quietschenden Reifen vor einem grauen steinernen Gebäude mit einer massiven, dunklen, hölzernen Doppeltür. Ich bezahle den Fahrer, und während er wieder losfährt, gehe ich auf das Klingelschild zu.
Dort, schwarz auf weiß, steht der Name Picard . Ich hole einmal tief Luft und drücke auf die Klingel neben dem inzwischen vertrauten Nachnamen. Erst jetzt wird mir bewusst, dass meine Hände zittern.
Mein Herz hämmert wie wild, während ich warte. Niemand antwortet. Ich klingele noch einmal, aber es kommt noch immer keine Reaktion. Meine Stimmung sinkt. Was, wenn es zu spät ist; was, wenn er tot ist? Ich rufe mir in Erinnerung, dass es ebenso gut möglich ist, dass er nur außer Haus ist; es ist mitten am Nachmittag an einem herrlichen Herbsttag. Vielleicht ist er spazieren oder einkaufen gegangen. Ich warte ein paar Minuten vor dem Gebäude, in der Hoffnung, dass irgendjemand hinein- oder herausgeht, den ich nach ihm fragen kann, aber die Straße ist still, und niemand kommt oder geht.
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Vielleicht ist er auf der Place des Vosges und spielt Schach, wie Monsieur Berr gesagt hat. Ich zücke meinen Stadtplan, klappe die richtige Seite auf und stelle fest, dass der Park keinen Block weit entfernt ist. Ich wende mich um und gehe in diese Richtung.
Unterwegs halte ich an einer Telefonzelle an, und nachdem ich ein paar Minuten versucht habe, einen Englisch sprechenden Telefonvermittler zu erreichen, benutze ich meine Visa-Card, um Annie auf ihrem Handy anzurufen. Mir ist klar, dass sie vermutlich schläft und nicht abnehmen wird, aber auf einmal brenne ich darauf, ihr zu berichten, was ich herausgefunden habe. Ihre Mailbox schaltet sich ein, und obwohl ich damit gerechnet hab, sackt meine Stimmung wieder ab. Ich überlege, ob ich ihr von Alain erzählen soll, aber stattdessen sage ich nur: »Ich habe eben an dich gedacht, Schatz, und ich wollte kurz Hi sagen. Es ist wunderschön hier in Paris. Ich glaube, ich habe vielleicht etwas gefunden, aber ich versuche, meine Hoffnungen nicht zu hoch zu hängen. Ich rufe dich später wieder an. Ich habe dich lieb.«
Fünf Minuten später betrete ich die Place des Vosges durch den mittleren von drei Steinbögen unter einem Gebäude. Der ganze Platz ist von einheitlichen Ziegel- und Steinbauten umgeben, mit grauen Dächern, bodentiefen Fenstern und schmalen Balkonen. Fast zwanzig hoch aufragende Bäume mit gelbgrünen Blättern umgeben ein Reiterstandbild in der Mitte des rechteckigen Parks, und vier zweistöckige Brunnen schmücken die vier grasbewachsenen Ecken, umrahmt von sandigen Fußwegen.
Ich sehe mich nach irgendjemandem um, auf den Alains ungefähre Beschreibung
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