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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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der kalten Winterluft.
    Tronke drehte den Kopf, verwundert, und sah ihn an. Sah ihm für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen.
    »Sie werden die Schönheit nicht zerstören«, sagte Jari.
    Und dann drückte er ab.
    Das Gewehr ist seltsam eingeschossen, hatte Tronke gesagt. Auf eine geringere Entfernung .
    Natürlich. Niemand schoss Wild aus der Nähe. Niemand hatte damit Wild geschossen.
    In der Lausitz, Cizek, gibt es keine Bären, hörte Jari Joana wieder wispern. Und die Wölfe sind nicht die Gefahr.
    Der Schuss brannte ein Loch in die Stille des Waldes, schwarz und gellend. Tronke stürzte wie ein gefällter Baum. Jari hatte genau gezielt, er war gut im Zielen inzwischen; er war ein Jäger geworden. Er hatte nicht auf Tronkes Herz geschossen. Im allerletzten Moment waren ihm die blinden Schneiderpuppen noch einmal in den Sinn gekommen, und er hatte zwischen die Augen gezielt. Es ging schneller so. Er sicherte das Gewehr, legte sich den Gurt wieder über die Schulter und stand auf.
    Seine Knie zitterten. Er verbot es ihnen. Er stieg über den Baumstamm und ging hinüber, es waren nur ein paar Schritte. Tronke trug noch immer die Skier. Aus seinem Kopf sickerte es rot und feucht in den weißen Schnee. Rot und feucht wie Wein aus den Beeren des Waldes. Jari kniete sich hin, tastete nach einem Puls und fand keinen. Niemand würde die Landvermesser durch den Wald führen. Niemand würde ihnen den Weg durch das lebende Labyrinth zeigen, niemand der Straße den Weg ebnen. Der Einzige, der es gekonnt und gewollt hatte, hatte aufgehört, sich zu regen, aufgehört zu existieren. Wie der Hase.
    Er, Jari, der Jäger, hatte die Macht über Fortdauern oder Ende aller Existenz, die Macht über den Zeitpunkt, an dem das Leben erlosch und Platz schuf für neues Leben. Er brauchte den Gott der Kirchen nicht mehr, den Gott seiner Mutter, den Gott des Weihrauchs und der Kerzen, den Gott, der an Weihnachten sein Kind in die Welt gebracht hatte, um es später zu opfern. Einen makaberen Gott. Nein, er brauchte ihn nicht mehr, er war selbst ein Gott, genauso dunkel und makaber wie der andere. Die Dunkelheit kam mit der Macht.
    Er griff in Tronkes Blut. Es war warm. Er malte einen Buchstaben damit in den Schnee, wie ein Kind mit Fingerfarben an ein Fenster malt, Götter sind immer auch Kinder: J.
    J wie Ja. J wie Jari und Jascha, Joana und Jolanda. J wie Jäger.
    Er war der dritte Jäger.
    Jetzt war er es wirklich geworden.
    Und dann, ganz plötzlich, packte ihn das Entsetzen. Er starrte den toten Körper vor sich an. Diese ganze Geschichte schien aus Körpern zu bestehen, Körpern an Fenstern, Körpern in Betten, Körpern in Gräbern, Körpern, die keine Körper waren, weil sie Puppen gehörten, Körpern im Schnee. Das Blut hatte aufgehört, aus diesem Körper herauszulaufen, er musste lange über ihm gestanden haben.
    »Sie brauchten nie einen Jäger«, wisperte Jari. »Sie brauchten einen Mörder. Sie haben einen Mörder gefunden.«
    Er musste irgendetwas mit der Leiche tun. Er konnte sie nicht so dort liegen lassen. Jemand würde kommen, irgendwann kam immer jemand, jemand würde den toten Förster finden, jemand würde Fragen stellen, wie er selbst Fragen gestellt hatte; zu viele Fragen.
    Er schnallte Tronke die Skier ab, versuchte, ihn sich über die Schulter zu legen. Doch der Tod wog schwer, und Jari war noch immer schwach auf den Beinen. Schließlich packte er den Förster bei den Stiefeln und zerrte ihn von der Lichtung fort, in den Schutz des Waldes. Er kam sich vor wie ein Tier, das seine Beute mit den Zähnen in den Bau zerrt. Aber er besaß keinen Bau, kein Versteck. Er brauchte einen Spaten. Der Boden unter dem Schnee war kalt und hart. In seiner Verzweiflung holte er einen der Skier und begann, mit der Spitze die Erde aufzukratzen – vergeblich. Am Ende bedeckte er den Körper mit Blättern und häufte Schnee von der Lichtung darauf. Er würde niemanden damit täuschen, der merkwürdige Hügel sah schon von Weitem verdächtig aus.
    »Ein Jäger willst du sein, Cizek«, keuchte Jari, wütend auf sich selbst, »ein Stümper bist du, taugst nicht einmal zum Mörder. Sie kriegen dich, ehe du Zeit hast, dir vorzustellen, was dann geschieht. Sie werden ihn finden und wissen, dass du es warst, deine Fingerabdrücke sind überall …«
    Und dann erinnerte er sich an die Streichhölzer in Tronkes Tasche. Er schaufelte den Schnee und die Blätter wieder beiseite, fand die Packung und betete – zu welchem Gott? –, sie

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