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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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die Höhle gesenkt. Der Morgen war klamm und kalt und mit noch mehr Regen heraufgezogen, und dann hatten die Männer begonnen zu streiten.
    Das dritte kleine Mädchen sah es noch vor sich: Der Arme Mann hatte draußen gestanden, vor der Höhle, im Regen, wütend und voller Angst. Bis zuletzt hatte er dem dritten kleinen Mädchen leidgetan. Er hatte seine Waffe gehoben und geschossen, auf den Netten Mann, auf die Mädchen, auf seine eigene Angst. Er hatte sehr oft geschossen. Der Nette Mann hatte versucht, die Mädchen mit seinem Körper zu schützen.
    Das dritte kleine Mädchen lag ganz zuunterst.
    Etwas tat ihm weh. Es versuchte, die Beine zu bewegen. Der Schmerz wurde stärker. Er befand sich an der Innenseite des Oberschenkels. Das dritte kleine Mädchen tastete in der Dunkelheit und griff in klebriges Blut. Eine der Kugeln hatte es bis ganz nach unten geschafft, hatte den Weg in sein Fleisch gefunden.
    Über dem dritten kleinen Mädchen lag Jolanda, die Augen fest geschlossen. Es wusste auch im Dunkeln, dass es Jolanda war, es hatte nie verstanden, weshalb andere Leute Schwierigkeiten hatten, die Schwestern auseinanderzuhalten.
    In der letzten Zeit war es noch schwerer zu verstehen gewesen.
    Sie hatten so nah beieinandergelebt, die drei, sie waren so sehr eins gewesen, dass sie begonnen hatten, nicht mehr eins zu sein. Das dritte kleine Mädchen hatte zum Beispiel angefangen, die spöttische Joana nicht mehr leiden zu können. Und Jolanda mit ihrer ewig ruhigen, ewig Streit schlichtenden Art war ihm auf die Nerven gegangen. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte es sich vielleicht einmal wirklich mit Joana gestritten, und hinterher wäre alles gut gewesen.
    Aber Jolanda, die mittlere Schwester, die immer schlichtete, hatte es nie gelassen. Jolanda, das erste kleine Mädchen – das vernünftigste. Sie lag so still, so still, so still. Das dritte kleine Mädchen erschrak. Auf einmal bereute es seine Gedanken, als hätte es mit ihnen etwas heraufbeschworen. Etwas Schreckliches.
    Es tastete noch einmal, fand mehr klebrige Nässe – fand einen Herzschlag und schluchzte laut auf. Zum Glück. Es wollte mit keinem streiten, und alle konnten sein, wie sie wollten, ernst oder spöttisch oder was auch immer! Sie sollten nur da sein, am Leben! Und natürlich waren sie eine Einheit, untrennbar.
    »Jolanda?«, flüsterte es. »Joana?«
    Niemand antwortete. Über ihm, irgendwo außerhalb der Höhle, sang eine Nachtigall.
    Das dritte kleine Mädchen begann, sich aus dem Berg von Körpern herauszuarbeiten. Schließlich stand es auf den Beinen, schwankend, die Zähne zusammengebissen vor Schmerzen.
    »Jolanda!«, rief es, nein, es schrie. »Joana! Wacht! Jetzt! Auf!«
    Und dann sah es, wie sie sich regten, langsam, kaum merklich. Es war so dunkel. Das dritte kleine Mädchen umarmte und küsste seine Schwestern vor lauter Erleichterung.
    »Der Nette Mann«, flüsterte es. »Der Nette Mann ist tot. Und der Arme Mann ist weggerannt … Wohin gehen wir jetzt? Es ist besser, wenn die Polizei uns nicht findet, oder was meint ihr? Ich will nicht zurück zu den Leuten, bei denen unser Vater nicht mehr ist! Wollt ihr zurück?«
    Das dritte kleine Mädchen sah das Kopfschütteln der Schwestern in der Dunkelheit und wartete auf eine spöttische Bemerkung von Joana. Doch diesmal kam keine. Das Kopfschütteln blieb ein einziges Mal stumm.
    »Ich habe wieder einen Hasen geschossen«, sagte Jari und ließ das tote Tier auf den Küchentisch fallen. Dann fiel er selbst auf einen Stuhl und starrte ins Leere. »Meine Hände sind ganz blutig, guckt euch das an. Vom Blut des Hasen.«
    »Einen Hasen für das letzte sorglose Abendessen vor dem Bau der Straße«, sagte Joana.
    Jari sah auf seine Hände hinab. »Wegen der Straße«, murmelte er, »braucht ihr euch keine Sorgen mehr zu machen.«
    Jolanda setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Nein?«, fragte sie.
    Und einen Moment lang hatte Jari das Gefühl, dass er allein mit ihr im Raum war, dass die anderen verschwunden wären, wenn er den Kopf drehte. Vielleicht war es die Erschöpfung. Er war lange, lange zurückgewandert. Das Mondlicht hatte ihm den Weg gewiesen.
    »Tronke wird niemandem den Weg weisen«, flüsterte Jari. »Er … hatte einen Unfall.«
    »Mit seinem Gewehr?«, fragte Jolanda verständnisvoll.
    Jari nickte. »Mit seinem Gewehr. Er … er ist tot.« Er legte die Stirn auf den Tisch, er brauchte einen Moment Dunkelheit.
    »Tot«, wiederholte Joana.
    Jari sah auf. Ja, es war

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