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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ganze Zeit über in dieser Tasche auf ihn gewartet? Hatten die Mädchen es irgendwo gefunden, wo er es verloren hatte, und es in seine Tasche gesteckt? Oder hatten sie es ihm fortgenommen, und jemand anders, ein Warner, ein Briefeschreiber, hatte es gefunden und es ihm zurückgegeben? Der Akku war beinahe leer. Er gab die PIN ein und fand eine Flut von Nachrichten. Die meisten waren von Matti. Er las nur die letzte.
    Noch immer im Wald? Rausgefunden, ob du sie liebst? Wenn du Xmas nicht da bist, hole ich dich heim.
    Jari schluckte und wählte Mattis Nummer. Er holte tief Luft, während er darauf wartete, dass Matti abhob. Die Worte, die er sagen wollte, überschlugen sich in seinem Kopf. Matti! Matti hilf mir, ich habe etwas Schreckliches getan! Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll … Ich musste es tun, oder ich dachte, ich müsste es tun, und nun kann ich es nicht mehr rückgängig machen. Die Zeit funktioniert nur in eine Richtung, und das Leben … und auch der Tod … Matti, was soll ich tun? Sag du mir, was ich tun soll!
    »Ja?«
    Jari starrte das Handy an, aus dem Mattis Stimme drang. Unter den Nägeln seiner halb erfrorenen Hand waren dunkle Ränder von getrocknetem Blut. Im Schnee lag das Gewehr.
    »Ja? Wer ist da? Warte – Cizek? Cizek, bist du das? Das ist doch deine Nummer! Jari? Ich kann dich nicht hören!«
    Matti, dachte Jari. Wenn du wüsstest. Ohne dich hätte ich nie gewusst, dass Birkenrinde brennt … Bilder stürzten auf ihn ein, Bilder von früher: Schulstunden. Bierflaschen. Die Tätowierung eines flammenden Herzens. Matti war noch immer derselbe, derselbe wie damals in der Schule. Unschuldig. Nur er, Jari, hatte sich verwandelt. Und Matti, der Matti im Traum, hatte es ihm vorausgesagt.
    »Cizek?«
    Jari hob das Handy, holte weit aus und schleuderte es mit aller Kraft gegen den Eingang der Klamm, wo es krachend am Felsen zerbarst. Es zerbarst mit Jaris Hoffnungen. Er trat mit beiden Füßen auf die Teile, zerbrach das letzte Stück Plastik unter den Sohlen der grünen Stiefel. In seinen Augen standen Tränen.
    Er konnte es nicht. Er konnte nicht zurückgehen. Es gab keine Verbindung mehr zwischen ihm und denen da draußen, er hatte kein Recht, mit ihnen zu reden, sich ihnen anzuvertrauen, nicht einmal, mit ihnen zu schweigen. Oder eine Christmette zu besuchen. Er hatte kein Recht auf die Liebe seiner Eltern. Kein Recht auf Mattis Freundschaft. Seine Hände waren voll Blut wie die von Branko und würden es immer bleiben.
    Er war ein Mörder.
    Er sank auf dem feuchten Schnee in die Knie und schlug die Hände vors Gesicht, doch er weinte nicht, er schluckte seine Tränen hinunter. Es hilft nichts, zu weinen . Welche von ihnen hatte das gesagt? Die Mädchen, dachte er. Sie waren alles, was er noch hatte. Er war auf ihre Seite der Welt gerutscht, ihre irreale, ästhetische, seltsam unmenschliche Seite, ohne es zu merken. Oder er hatte es gemerkt und die Tatsache ignoriert. Die Warnungen. Seine Träume. Die Briefe.
    Er saß lange so im Schnee, bis die Nebel gingen und die Nacht kam. Doch der Mond schien, der Schnee reflektierte sein Licht, und die Nacht war zu hell, um das Geständnis eines Mörders sicher zu verwahren. Der Wald sah ihn und wusste, was er getan hatte.
    Und was er tun würde.
    Er war der dritte Jäger.
    Schließlich stand Jari auf, nahm das Gewehr und legte sich den Riemen wieder um.
    Dann machte er sich auf den langen Weg zurück zu dem efeubewachsenen Haus im Wald.
    Nach Hause.
    Das erste kleine Mädchen lag sehr still.
    Das zweite kleine Mädchen lag sehr still.
    Das dritte kleine Mädchen wagte nicht, sich zu rühren.
    Seine Kleider waren feucht. Es war sehr dunkel. Das dritte kleine Mädchen musste geschlafen haben, oder sein Geist hatte geschlafen, sich zurückgezogen zwischen die Zeilen. Es versuchte, sich zu erinnern, was geschehen war.
    Sie waren gerannt, durch die Klamm, durch den Wald. Fort von der Stelle, an der ihr Vater umgefallen war. Ihr Vater war tot. Der Wald war voller Polizisten gewesen. Sie hatten das Geräusch eines Hubschraubers gehört und dann den Regen, und dann hatten die Männer sie in die Höhle gescheucht. Der Nette Mann, der sich auskannte im Wald, der hatte auch die Höhle gekannt.
    Der Regen musste ihre Spuren verwischt haben. Sie hatten lange gesucht da draußen, die Polizisten und die Hunde, aber irgendwann war es leiser geworden im Wald, nur noch der Regen war draußen auf die Blätter geprasselt. Und dann hatte die Nacht sich über

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