Solange die Nachtigall singt
verstand wenig.
Dann löste sie sich plötzlich von ihm, nahm seine Hände und drückte sie. »Geh, Jäger«, flüsterte sie. »Nimm dein Gewehr und geh. Grüß mir den Winterwald.«
Als Jari wieder hinaus in den Schnee trat, war es, als beugten die Bäume sich ihm entgegen. »Lange warst du fort«, schienen sie zu wispern, »nun bist du zurück. Komm und sieh dir dein verändertes Reich an, Jäger …«
Noch einmal blickte er zurück zum Haus. Eines der Fenster ganz oben, im Dachgeschoss, stand offen. Und er sah darin zwei Gestalten stehen, zwei der Mädchen, die einander in den Armen hielten. Sie waren nackt, trotz der Kälte. Er stand einen Augenblick einfach da und betrachtete sie.
»Ihr werdet nicht mehr hier sein, wenn die Straße gebaut ist«, wisperte er. »Ihr werdet verschwinden, ihr und die Schönheit. Die Welt ist voller Zwischenräume.«
Damit wandte er sich ab und tauchte ein in den Winterwald.
Wie leise alles auf einmal war! Wo waren all seine Bewohner? Versteckten sie sich in den Zwischenräumen? Jari fand nur ihre Spuren, kreuz und quer liefen sie über verschneite Moospolster und Wurzeln, die Spuren von Hasen und Rehen, Wildschweinen und Igeln, die Perlschnur-Spuren der Füchse … Wenn er die Augen für Sekunden schloss, sah er sie auf der Straße liegen, all diese Kreaturen: blutige Kadaver. Er schloss die Augen nicht mehr.
Gegen Mittag setzte er sich auf einen verschneiten Baumstamm und stellte fest, dass jemand ihm ein Paket mit Butterbroten in die Tasche gesteckt hatte. Er zwang sich, zu essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Der Baumstamm befand sich am Rand einer Lichtung, halb verborgen unter den überhängenden Ästen einer großen Fichte. Jari war schon früher hier gewesen, aber jetzt, unter dem Schnee, wirkte die Lichtung plötzlich ungewohnt groß. Das Schneefeld aus meinem Traum, dachte er. Das Schneefeld, über das ich Branko gefolgt bin.
Als er das dachte, tauchte am anderen Ende des Feldes eine Gestalt auf. Jari duckte sich hinter den Baumstamm und beobachtete, wie sie sich quer über die Lichtung näherte. Sie trug Skier. Hatte nicht er, Jari, im Traum auf Skiern gestanden? Sah er dort am Ende sich selbst näher kommen, besaß auch er einen Zwilling? Er packte das Gewehr, das er neben sich gelegt hatte, umfasste es fest mit beiden Händen, nur um sich in seiner Verwirrung an irgendetwas festzuhalten.
Nein, der dort auf Skiern über die Lichtung kam, war nicht er selbst. Es war Gunther Tronke. Sein Gesicht war rot vor Kälte, seine Hände steckten in dicken Fäustlingen, seine Beine in Schneehosen. Vollplastik, dachte Jari, ein Teil der Zivilisation. Tronke bremste seine Fahrt ganz in der Nähe, ohne ihn zu bemerken. Jari beobachtete, wie er die Fäustlinge auszog und seine Pfeife aus der Jackentasche holte. Er stopfte sie, lehnte sich an einen Baum am Rand der Lichtung und entzündete die Pfeife schließlich, um langsame Rauchkringel in die Schneeluft zu blasen. Vielleicht dachte er an die Landvermesser, die er morgen durch den Wald führen würde. Wie zufrieden er aussah. Wie verdammt zufrieden.
Bilder, Erinnerungen, Szenen überschlugen sich plötzlich in Jaris Kopf: die absolute Schönheit der nackten Körper im Fenster. Jaschas Hand auf seiner Hand. Sein Krankenbett. Wir brauchen dich, Jari! Bleib bei uns! Das Mädchen in der Bäckerei im Dorf. Es gehen immer wieder Leute in diesen Wald und kommen nicht zurück … Die drei Schwestern, die aufgereiht hinter der Werkbank standen, auf der das Gewehr lag, wie an einem Altar. Wir können nicht töten. Der Hase in seiner Hand. Der Wald unter dem singenden Felsen, auf den er mit dem Triumphgefühl eines Siegers hinunterblickte. Jaschas Lippen auf seinen. Und wieder die nackten Mädchen am Fenster.
Und auf einmal wusste er, was er tun musste. Er würde sie schützen, so, wie er es versprochen hatte. Er würde sie retten. Ihre Welt, ihre Schönheit, den Wald. Ihre Liebe. Er sah die Lösung so deutlich, als wäre sie vor ihm in den Schnee geschrieben. Rot.
Er duckte sich noch ein wenig tiefer hinter den umgestürzten Baumstamm.
Entsicherte das Gewehr.
Legte die Hände in der richtigen Position daran, so, wie Tronke es ihm gezeigt hatte.
Richtete sich auf.
Hob das Gewehr.
Kniff ein Auge zusammen.
Zielte über Kimme und Korn wie damals mit Matti auf dem Jahrmarkt. Rosen hatten sie geschossen, Plastikrosen für die Mädchen.
Tronke klopfte seine Pfeife aus.
»Hey«, sagte Jari. Seine Stimme war scharf und klar in
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