Solange die Nachtigall singt
Nachtigall. Still, still.«
Er sah sie nicht mehr, er lag da wie ein Blinder. Alle waren tot, in seinen Träumen waren alle tot. Alle Menschen, die er kannte. Und Weihnachten kam über die Welt wie eine Beerdigung. Dann wisperte ihm jemand etwas ins Ohr. Er glaubte, Joanas spöttische Stimme zu erkennen, war sich aber nicht sicher.
»Du bist über den Berg, Jäger«, wisperte sie. »Das Fieber sinkt. Du wirst bei uns bleiben. Aber in der Lausitz, Cizek, gibt es keine Bären. Und die Wölfe, das habe ich dir schon einmal gesagt – die Wölfe sind nicht die Gefahr.«
Als er das nächste Mal erwachte, erwachte er auf eine sehr endgültige Art.
Er musste Joanas Worte geträumt haben. Vor dem Fenster fiel der Schnee in leisen, dicken Flocken. Jari stand auf und merkte, wie schwach seine Beine sich anfühlten. Er hatte sie wohl lange nicht benutzt. Er hielt sich am Schreibtisch fest, um aus dem Fenster zu sehen. Die Welt war weiß. Unten im Schnee war ein wunderschönes Mädchen in einem leuchtend ultramarinblauen Mantel dabei, ganz alleine Schneebälle nach den Bäumen am Waldrand zu werfen.
Birkengelb
Als Jari es geschafft hatte, trotz der Schwäche in seinen Gliedern zu duschen und sich anzuziehen, als er in die Stiefel gestiegen war und vors Haus trat, war das schneeballwerfende Mädchen fort.
Es hatte aufgehört zu schneien. Jari atmete die weiße Luft tief ein, hustete wieder und lachte über sich selbst. Er würde den Husten schon loswerden. Er hatte das Fieber überlebt, er war über eine Grenze gegangen. Und er wusste jetzt, dass der Wanderer im Wald sich geirrt hatte. Seine Erinnerung an den Zeitungsartikel von damals war mit der Zeit zu stark verblasst. Die drei Mädchen lebten, natürlich lebten sie. Sie waren durch das Grauen gegangen wie durch einen Fluss, über ein Gebirge aus Angst, durch ein Tal aus Dunkelheit – aber sie lebten. Dies war kein Geisterhaus.
Jari legte den Kopf in den Nacken und rief zum hellblauen Himmel hinauf: »Hey! Hier steht er, der Cizek, und lebt! Er hat nur ein paar Tage im Bett gelegen, das ist alles! Hey! Wo seid ihr alle?«
Da teilten sich die gefrorenen Äste am Waldrand, und ein Hirsch brach aus dem Dickicht hervor. Auf seinem Rücken saß eines der Mädchen. Es ließ den Hirsch neben Jari stillstehen und saß ab. Ihre Wangen waren rot vor Kälte, ihr blauer Mantel strahlte wie ein leuchtenderes Stück Himmel.
»Du bist also auf den Beinen«, sagte sie, außer Atem. Dann schlang sie ihre Arme um Jari. Sie roch nach Moos und Schnee und Orangenschalen. Er verbarg seine Nase in der violetten Wollmütze, die ihr Haar halb bedeckte.
»Ein Glück«, flüsterte sie. »Wir hatten Angst um dich. Du warst so lange nur halb bei uns, mit einem Bein in der Welt deiner Albträume … Was hast du geträumt, im Fieber?«
Einen Moment lang war er versucht, es ihr zu erzählen. Aber dann dachte er, dass es besser war, Branko und Matti und die blutige Straße für sich zu behalten.
»Geträumt? Oh, nichts«, sagte er leichthin. »Lauter Unsinn. Jetzt bin ich ja wieder wach.«
»Das bist du«, flüsterte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter.
Jascha, dachte er, es musste Jascha sein. Jascha, die stets die Nähe suchte. In dem Moment, als er das dachte, ließ sie ihn los und trat zurück.
»Ich habe Tronke getroffen«, sagte sie leise. »Er läuft im Wald umher und freut sich über seine Straße. Morgen kommen die Landvermesser. Er wird sie führen. Ohne ihn finden sie sich im Nebelwald nicht zurecht. Der Wald ist … so schön bei Schnee. Schau.«
Die Geste ihres ausgestreckten Arms schloss alles mit ein: die Bäume, die sich um den Hof zogen wie eine Kette aus weiß bemalten Kunstwerken. Die rosa geränderten Wolken über den Baumwipfeln. Die letzten roten Blätter des wilden Weins an der Hauswand, die mit glitzernden Schneekristallen geschmückt waren.
Als sie sich wieder ihm zuwandte, lächelnd, glitzerte es auch in ihren Augen.
»Du weinst ja«, sagte Jari und streckte eine Hand nach ihrem Gesicht aus.
Sie zuckte zurück. »Nein. Wir weinen nie. Es hilft nichts, zu weinen.«
»Du hast recht«, sagte Jari. »Der Wald ist schön bei Schnee. Er ist immer schön. Immer anders. Ich wünschte, ich könnte ihn im Frühjahr sehen.«
»Im Frühjahr wird die Straße ihn zurückgedrängt haben.«
»Es ist nur eine Straße. Der Wald wird bleiben. Und ich … ich bleibe vielleicht auch. Bis zum Frühjahr. Oder länger.«
Sie nahm seine Hand. »Wir werden nicht mehr hier
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