Solange die Nachtigall singt
sein, wenn die Straße gebaut ist, Jari. Wir werden verschwinden. Wir und die Schönheit. Der Wald wird ein ganz gewöhnlicher Wald sein wie hundert andere Wälder auch. Auf dem Asphalt werden überfahrene Füchse liegen. Und ein Hirsch.«
Er zog sie zurück in seine Arme. »Nein«, flüsterte er in ihr schwarzes Haar, »nein, nein.« Er fand die Narbe unter ihrem Ohr und strich behutsam darüber. »Jolanda.«
»Ja.«
»Wohin wollt ihr denn verschwinden, so plötzlich?«
Sie zuckte die Achseln. »Die Welt ist voller Zwischenräume, in die man schlüpfen kann.«
Es war seltsam, an diesem Tag mit ihnen in der Küche zu sitzen und Kaffee zu trinken. So viel war geschehen, seit Jari das letzte Mal an diesem Tisch gesessen hatte. Die Geschichte der drei kleinen Mädchen schwamm hinter allem, was er sah, wie eine neue Sorte von Nebel, und noch wusste er nicht genau, was er damit tun sollte. Er begriff jetzt, weshalb ihre Welt nicht zerstört werden durfte, von nichts und niemandem, jene Welt, die sie gefunden hatten, nachdem ihre frühere Welt aufgehört hatte zu existieren. Aber die Dunkelheit, in der sie für zwei Jahre verschwunden und aus der sie wieder aufgetaucht waren, inmitten von Regen und Blut, machte ihm Angst. Die Dunkelheit, dachte er, hat sich nicht nur in ihren Augen festgesetzt, sie sitzt in ihren Herzen. Und sie ist gefährlich.
Auf dem Rand der Eckbank schlief der zahme Fuchs. Jari erhaschte im Spiegel einen Blick auf sich selbst und erschrak darüber, wie blass und abgezehrt er aussah. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe.
»Wie viele Tage sind es noch bis Weihnachten?«, fragte Jari zwischen zwei Bissen. »Oder habe ich Weihnachten in meinem Bett verschlafen?«
»Weihnachten«, wiederholte Joana nachdenklich, ihren Rücken auf der Bank gegen den von Jascha gelehnt. »Das ist ein Grund, zu feiern, nicht wahr? Aber hier gibt es kein Weihnachten.«
»Heute ist der fünfzehnte Dezember«, sagte Jolanda von irgendwo hinter ihm.
»Dann lag ich zwei ganze Wochen im Bett, ohne mich zu rühren?«
Die Mädchen nickten.
»Keiner unserer Jäger war je so krank«, flüsterte Jascha. »Du, du bist anders als die anderen. Wir dachten, wir verlieren dich, ehe du überhaupt ein Jäger wirst. Und vielleicht wäre das …«
Er hörte das Ende ihres Satzes in der Luft: … besser gewesen. Warum?
Er schob seinen Teller zurück und stand auf. »Wer von euch schreibt die Briefe?«
»Briefe?«, fragte Joana und kniff die Augen zusammen.
Der Fuchs sprang von der Bank und glitt zur Tür hinaus.
»Oh, nichts«, sagte Jari. »Ich … muss …« Er lachte plötzlich. »Natürlich, ich muss das geträumt haben, im Fieber. Es war auch zu seltsam, ich hätte gleich merken müssen, dass es ein Traum war.«
Eine Weile sprach niemand, und er fragte sich, ob sie ihm glaubten. Natürlich hatte er die Briefe nicht geträumt. Schließlich seufzte Jolanda und sagte: »Und morgen kommen also die Landvermesser. Dies ist der letzte Abend, an dem wir unbesorgt sein können. Es ist nicht Weihnachten, aber vielleicht ein Grund für ein letztes wirklich gutes Abendessen vor einer letzten wirklich schönen Nacht.«
Jari wusste nicht, ob sie meinte, was sie vielleicht meinte. »Ich … werde hinausgehen und einen Hasen schießen«, sagte er.
»Ja.« Joana nickte. »Tu das, tapferer Jäger. Schieße einen der gefährlichen großen Hasen, vor denen du uns so gut schützt.«
»Joana«, sagte Jascha vorwurfsvoll. »Es ist nicht seine Schuld, dass Tronke uns die Straßenbauleute auf den Hals hetzt.«
»Nein«, sagte Joana und stand auf, um den Tisch abzuräumen. »Das ist es nicht. Verzeih mir, Jäger. Du bist der Zeisig, und ich bin … ich bin Joana, die Spottdrossel, ich kann nichts dagegen tun.«
Sie stellte die Kaffeekanne mit einem Knall auf die Anrichte und verließ die Küche, und als Jari von seinem Teller aufsah, waren auch die anderen beiden verschwunden. Jascha war die Einzige, die nach ein paar Minuten zurückkehrte.
»Sie ist so verzweifelt wie wir alle«, sagte sie. »Vielleicht noch verzweifelter. Und wir können sie nicht trösten. Wir haben Angst, Jari.«
Er war aufgestanden, und sie trat ganz nahe zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
Er erinnerte sich an die Lichtung im Wald, die Lichtung mit den Fliegenpilzen. Sie drängte sich an ihn wie damals, als wollte sie mit ihm verschmelzen, sich auflösen, eins mit ihm werden. Er erwiderte ihren Kuss, er hielt sie in seinen Armen und
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