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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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er an der richtigen Stelle ankam, wanden sich bereits die ersten Nebel zwischen den Felsen. Und dort unten, in den weißen Schwaden, kniete jemand. Jari erschrak. War einer der Landvermesser wieder zu sich gekommen? Er sah genauer hin. Nein. Der dort kniete, wiegte den großen, plumpen Oberkörper hin und her, die Arme um sich selbst geschlungen, als hielte er ein Kind. Er sang leise, seine Stimme war tief und volltönend. Es war Branko.
    Und dann verstand Jari, was er sang.
    »Lang, dass deine Stimme brach,
    bist stumm.
    Und wenn der Mond scheint
    und wenn ein Kind weint,
    frag nicht, warum …«
    Und dann sang er weiter, die gleiche Melodie, doch er sang jetzt einen anderen Text: »Ich-bin-ich-bin-ich-bin, Ich-bin …«
    Verdammt. Das Rascheln, die Schritte auf der anderen Seite der Schlucht. Es war Branko gewesen. Er musste so still dagestanden haben wie ein Felsen; Jari hatte ihn übersehen. Branko, dachte er, hat alles gesehen, Branko ist Zeuge meines Mordes gewesen. Er singt den Namen, von dem er glaubt, dass er dem Mörder gehört.
    Jari schob sich mit den Stöcken ein Stück von der Schlucht zurück, bis er Branko nicht mehr sehen konnte. Branko, dachte er, geht in die Dörfer. Branko spricht keine zusammenhängenden Sätze, doch er spricht. Er spricht mit den Leuten.
    Als Jari seinen Blick über die Schlucht wandern ließ, stand dort, auf der anderen Seite, der Hirsch. Er trug tatsächlich nur eines der Mädchen, aber Jari war sich sicher, dass die anderen beiden nicht fern waren. Das schwarze Haar des Mädchens fiel in sein Gesicht. Sie strich es mit einem makellos weißen Handschuh beiseite. Auch der lang herabfallende Mantel des Mädchens war weiß, Jari hatte zuvor nicht darauf geachtet, weiß und unbefleckt. Sie blickte ihn an. Sie hatte Branko gesehen, hatte gesehen, was er in den großen Händen hielt, sie hörte, wessen Namen er sang. Es war nicht schwer, ihren Blick zu lesen. Wir wissen beide, sagte dieser Blick, was getan werden muss.
    Jari nickte langsam. Dann wendete er die Skier und jagte von der Schlucht weg. Ja, er wusste, was getan werden musste. Aber nicht jetzt. Sollte sie denken, das Magazin wäre leer. Für einen Tag hatte der Jäger genug gejagt.

Nachtviolett
    Matti wanderte den Weg zur Sturmhöhe alleine hinauf. Dort blieb er einen Augenblick stehen und sah ins Tal hinab, bevor er ins Grün des Waldes eintauchte. Hier also war Jari gegangen, an der Seite eines Mädchens, das von der Natur entstellt war und doch, wenn man Jari glaubte, das schönste Mädchen der Welt. Die Sache wurde nicht wirklich klarer.
    Er erreichte die Klamm am Abend, als er sich gerade sicher war, dass er sich verlaufen hatte. Die hohen Felswände ragten vor ihm auf, und er beglückwünschte sich zu seinem Richtungssinn, denn es gab wirklich seit Langem keinen Weg mehr im Wald.
    Doch Mattis Triumph hielt nicht lange an. Die Wände der Klamm schienen immer dichter zusammenzurücken, je weiter er hindurchging, schienen ihn zwischen sich zerquetschen zu wollen, obwohl er wusste, dass das Einbildung war. Und als er einmal nach oben sah, starrten die großen Felsbrocken an ihrem Rand ihn an wie stumme Wächter. Es wurde neblig jetzt, die weißen Schwaden schlangen sich um seine Füße wie Reptilien.
    »Wenn ich es schaffe, durch diese Klamm zu gehen und Jari zu finden«, flüsterte Matti, »dann kommt Marianne zu mir zurück und heiratet mich doch. Oder … oder … oder irgendein anderes Mädchen«, fügte er hinzu. »Ja. Wenn ich es schaffe, finde ich die Liebe meines Lebens. Die Liebe!« Er sprach jetzt laut, und seine Worte hallten in einem beeindruckenden und feierlichen Echo von den Felswänden wider. »Die Liebe, für die es sich lohnt, zu sterben.«
    Er lauschte den Worten nach, und ein angenehmer Schauer lief ihm über den Rücken. Er fühlte beinahe, wie das eintätowierte Herz auf seinem Oberarm pulsierte. Oben, in den Ästen eines Baumes nahe bei einem der großen losen Felsen, begrüßte ein kleiner Vogel die Dunkelheit mit seinem Lied. Eine Nachtigall. Matti hörte ihr eine Weile zu. Dann machte er sich auf den Weg in die Nebel, durch die Klamm. Der Wald auf der anderen Seite umfing ihn mit der Schwärze seiner Nacht, und er wanderte hinein wie in eine unbekannte Welt.
    »Ich bin auf dem Weg«, flüsterte er. »Jari. Halte durch.«
    Er fiel an diesem Abend in ihre Umarmung wie schon zuvor, er konnte nicht einmal sagen, wie viele Male zuvor. Das Bett war weich, das Kerzenlicht glitzerte in den

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