Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
kam zu ihm: Regen, der auf Blätter fiel, Regen, der auf Felsen fiel, Regen, der auf Regen fiel.
    An jenem Tag regnete es nicht. Es hatte geregnet, bis vor Kurzem, der Wald war noch nass. Da war große Aufregung im Dorf gewesen, er hatte die Uniformen durch den Wald laufen sehen und die Hunde. Schon am Tag zuvor. Da waren auch Schüsse gewesen. Er hatte sich vor ihnen versteckt.
    Nun war wieder alles ruhig. Aber in der Höhle atmete etwas. Er spürte es gleich. Er blieb stehen. Der strenge Geruch von Blut stieg ihm in die Nase. Er wich zurück. Aber wenn etwas atmete, lebte etwas, und er musste helfen.
    Er faltete und entfaltete seine großen, groben Hände, lange ehe er sich dazu durchrang, die Höhle zu betreten. Er fand einen Berg aus Körpern, aufgeschichtet wie Stroh. Der ganz oben, der die anderen bedeckte, war der Körper eines fremden Mannes. Was hatte ihn in diesen Wald gebracht? Blut tränkte sein Hemd, war über sein Gesicht gelaufen und auf den Höhlenboden getropft. Der Felsen war schmierig und glitschig hier.
    Der Mann atmete nicht. Branko hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Er hatte tote Tiere gesehen, überfahrene auf der Straße, und die Hähnchen, begraben in den Schaufenstern der Fleischereien, federlos und nackt. Der tote Mensch war anders. Nicht nackt, einfach nur still und sehr schwer. Branko versuchte, ihn anzuheben. Es gelang ihm erst nach einigen Anläufen.
    Und dann hörte er die Stimme eines Kindes in der Dämmerung der Höhle.
    »Bitte«, sagte das Kind. »Ich weiß nicht, wer du bist … aber du musst uns helfen … Mein Bein tut so weh …«
    Branko fand eine kleine Hand, die sich um seine schloss. Kurz darauf hielt er das Kind im Arm, das zu ihm gesprochen hatte. Es war ein kleines Mädchen, er sah es erst, als er es ins Licht vor dem Höhleneingang trug. Sie war wunderschön, ihre großen Augen dunkel, ihr Haar schwarz wie die Nacht im Wald.
    »Lass mich runter«, bat sie. »Du musst die anderen holen. Der Mann ist tot, aber meine Schwestern nicht, sie sind nur verletzt. Wie ich.«
    Er nickte. Er trug die anderen beiden Mädchen auf seinen Armen aus der Höhle, sie waren leicht wie Federn. Er holte auch den toten Mann und legte ihn über seine Schultern wie ein geschossenes Stück Wild. Der Tod, dachte er, soll nicht im Wald bleiben. Er würde ihn ins Dorf bringen, damit er dort ein Grab fand. Am Ende streichelte er die Wange des kleinen Mädchens, das er zuerst aus der Höhle getragen hatte. Seine Hand hinterließ rote Striemen dort.
    »Branko kommt wieder«, sagte er. »Geht ins Dorf, kommt wieder.«
    Sie nickte. »Wir sehen uns«, sagte sie. »Bald.«
    Diesmal überließ Jari die Leichen nicht den Wölfen. Er zerrte den Körper des zweiten Mannes dorthin, wo auch der erste lag, und begann, Steine zusammenzusuchen. Stein um Stein schichtete er auf die Toten, Stunde um Stunde, bis die Körper unter einem unförmigen Haufen Geröll verschwanden. Das Orange der Warnweste verwandelte sich unter den Steinen zu Gold und wurde dann von den Schatten getilgt. Niemand würde ihn finden. Jari wischte sich den Schweiß von der Stirn, setzte sich auf den Boden und zog das Paket mit den Broten aus der Tasche, das die Schwestern ihm mitgegeben hatten. Zwischen den Brotscheiben befanden sich dünne Stücke von kaltem Braten; ein Hase, den Jari erlegt hatte.
    Es war später Nachmittag, das Aufschichten der Steine hatte ihn hungrig gemacht. Er dachte an Tronke. Es schien sehr lange her, dass er auf einer Lichtung im Schnee gekniet und sich übergeben hatte. Ein schmerzhafter, kühler Stolz schlich sich in sein Herz.
    Oben am Rand der Schlucht schnallte Jari die Skier wieder an und jagte durch den Wald zum singenden Felsen. Hier kam er, der dritte Jäger, er war Teil der Schönheit und Teil der Macht, er war ein Teil des Bösen im Wald. Er war frei, so frei wie nie zuvor, denn er besaß keine Bindungen zu irgendjemandem draußen, außerhalb des Waldes. Niemand kannte ihn dort mehr, und er kannte niemanden. Und wenn sie sich noch erinnerten, so würden sie ihn bald vergessen. Er zog die Skier aus und stolperte auf den Felsen hinauf, rutschend, lachend, er hörte, wie irrsinnig sein eigenes Lachen klang zwischen den Misstönen des singenden Felsens, doch er konnte nicht damit aufhören.
    Auf der abgeflachten Kuppe klopfte sich Jari den Schnee von den Knien – und merkte, dass er in einem Kreis aus Farbflecken stand. Rot.
    Nein, es war kein Kreis.
    Es war ein Herz.
    Und das Lachen

Weitere Kostenlose Bücher