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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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eingeschweißter Lebkuchen auf.
    »Und dann also nach Tschechien«, sagte der eine.
    »Ja«, sagte der andere. »Irgendwo finden wir eine Pension … Ski fahren … der letzte Auftrag hier … dann die Feiertage … nach Tschechien.«
    »Und erst lange nach Neujahr wieder ein Auftrag«, sagte der eine.
    »Manchmal ganz gut, wenn man tun und lassen kann, was man will«, sagte der andere. »Keine Familie, kein Klotz am Bein …«
    Da wusste Jari, dass man sie erst nach Neujahr suchen würde, falls sie nicht aus dem Wald zurückkehrten. Niemand würde nach ihnen fragen. Nach Neujahr wäre ihre Spur kalt und nutzlos.
    Er wartete geduldig und reglos, bis sie ihr Picknick zusammengepackt hatten. Sie standen mit dem Rücken zu ihm. Der eine warf seine Zigarettenkippe in die Schlucht.
    Der Jäger fragte sich, ob sie die Rosensträucher dort unten sahen. Er nahm das Gewehr von der Schulter, lud nach, legte an, entsicherte. Er zielte sorgfältig. Er wusste nicht, wie dick die Warnwesten waren und aus welchem Material. Er dachte rational. Er zielte auf den Kopf des Mannes, der geraucht hatte, auf den Kopf, wie bei Tronke. Es war das Bewusstsein, das der Nebelwald veränderte, und es war das Bewusstsein, das zuerst verschwinden sollte, rasch. Das Herz seiner Opfer war dem Nebelwald gleichgültig. Und der Jäger war ein Geschöpf des Waldes. Oder seiner drei Königinnen.
    Der erste Mann fiel wie ein Kegel, kippte vornüber und war fort, als hätte er nie existiert. Die Schlucht hatte ihn zu sich gerufen.
    Der zweite Mann drehte sich um, seine Augen weit aufgerissen und starr vor Schreck. Und dann rannte er, an der Schlucht entlang, wie ein gehetztes Tier. Jari hörte sein Keuchen. Zwischen den Bäumen glitt der Jäger lautlos dahin. Das Blut sang in seinen Ohren. Still, still, meine Nachtigall … Einmal drehte der Mann sich um und blickte dem Jäger in die Augen, und in seinem Blick lag genauso viel Entsetzen wie Unverständnis. Wer bist du?, stand darin geschrieben. Warum tust du das? Kennen wir uns denn? Gibt es einen Grund? Oder bist du ein Verrückter, jenseits von Gründen und Vernunft?
    Der Jäger versuchte, das Alter des Mannes zu schätzen, den er jagte. Er schätzte ihn auf Ende vierzig. Er war schnell, aber er hatte keine Chance; der Jäger war jung und zäh, und er schoss nur so voran auf seinen Skiern. Dennoch wünschte er, der Mann in der orangefarbenen Weste wäre stehen geblieben, damit er so genau zielen konnte wie gewohnt. Er mochte den Gedanken nicht, dass er einfach schießen musste, dass er sein Opfer verletzen, aber nicht töten würde. Und dass er noch ein zweites Mal schießen müsste, von Nahem, noch einmal in menschliche Augen sehen.
    Dann sprang der Mann. Es war der einzige Ausweg: Er sprang in die Schlucht. Der Jäger bremste die Skier kurz vor dem Abgrund, er stand mit den Skiern auf den verschneiten, weich federnden Brombeeren, als schwebte er. Der Mann unten in der Schlucht schwebte nicht. Er sah ihn zwischen den Rosen liegen, auf der Seite, sah, wie er versuchte, sich hochzurappeln, doch er konnte es nicht mehr. Vielleicht war sein Rückgrat gebrochen. Die Schlucht war tief. Etwas raschelte auf ihrer anderen Seite. Stand jemand dort? Beobachtete ihn jemand? Nein, da war niemand.
    Am Grund der Schlucht wand sich der Mann in der orangefarbenen Warnweste. Wie er den Jäger ansah! So flehentlich. Der Jäger erhörte sein Flehen, hob das Gewehr noch einmal und gab einen Gnadenschuss ab, zielgenau zwischen die Augen. Die Augen waren natürlich wieder so ein dummes Symbol. Ohne die Augen sah niemand die Schönheit. Er dachte auch an die Augen der drei Mädchen. An das eine dunkle Auge, den See, in dessen Ufer zwei Kreuze eingeritzt waren.
    Aber wer sehen kann, dachte er, sieht nicht nur die Schönheit, sondern auch das Leid. Vielleicht ist es besser, nicht zu sehen? Er schloss seine eigenen Augen und sehnte sich danach, sie für immer geschlossen zu lassen. Blind zu sein.
    Dann zwang er sich, sie zu öffnen, die Skier abzuschnallen und den Weg in die Schlucht hinab zu suchen, um nachzusehen, ob die Landvermesser wirklich tot waren. Auf der anderen Seite der Schlucht raschelte es wieder, und er glaubte, Schritte zu hören, die davonliefen. Aber er konnte sich getäuscht haben.
    Warum ging er an jenem Tag zu der Höhle? Später wusste Branko es nicht mehr. Die Höhle hatte ihn immer schon angezogen, er war gerne dort, vor allem wenn es regnete. In der Höhle war es still, nur das Geräusch des Regens

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