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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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zurück, ein Stück Gaze in der Hand, glatt, blass, von derselben Farbe wie ihre Haut. Unter ihrem Ohr prangte die Narbe. Er dachte daran, wie Jascha die Gaze von ihrem Mund gezogen hatte, damals, und plötzlich nicht mehr hässlich gewesen war. Verkleidungskünstlerinnen.
    »Jolanda«, sagte er.
    Sie warf den Kopf zurück und gab ein kleines, helles Lachen von sich, das beinahe besser zu Joana gepasst hätte.
    »Du bist nicht dumm«, sagte sie. »Gar nicht so dumm. Aber eigentlich doch, mein Zeisig. Viel zu dumm.«
    Er hob das Gewehr mit einer raschen Bewegung aus dem Schnee auf, lud nach, entsicherte. Ihr Gesicht war wieder ernst und ruhig, als er auf sie zielte.
    »Du wirst Joana nicht sagen, was du gehört hast«, zischte er. »Kein Wort. Verstehst du? Still, still, meine Nachtigall, still wirst du sein. Ich bin der Jäger, vergiss das nicht.«
    »Nicht mehr«, sagte Jolanda.
    Er zielte neben sie, deutlich neben sie, noch deutlicher als bei Matti. Er drückte ab. Nichts geschah. Er fluchte, lud nach, drückte ein zweites Mal ab. Nichts, nur ein hohles Klicken.
    »Es ist keine Munition darin«, sagte Jolanda. »Sieh es ein.«
    »Ihr habt sie herausgenommen.«
    Sie nickte. »Natürlich. Ein Verräter kann kein Jäger sein. Du hattest die Macht über Leben und Tod, aber du hast sie verloren. Hast dich zurückverwandelt. Du bist wieder Cizek, der Zeisig, sonst nichts. Ein Singvogel, der es versäumt hat, fortzuziehen, als der Winter kam.«
    Damit lief sie zum Rand der Lichtung, schnallte ihre Skier an und flog davon, schwebte schwerelos über den tiefen Schnee. Uneinholbar für einen ohne Skier.
    »Jolanda, bleib stehen!«, rief Jari, von einer schrecklichen Ahnung gepackt. »Wo ist Jascha?«

Aschekobalt
    Das Haus war sehr still, als er dort ankam. Jolandas Skier lehnten neben der Vordertür. Die Blätter des Efeus wippten dunkelgrün auf und ab, der wilde, blutrote Wein hatte seine letzten Blätter längst verloren; es fiel Jari zum ersten Mal auf.
    Er zog die grünen Stiefel am Hintereingang aus, die Stiefel des Jägers, und stellte sie neben die Stiefel der Mädchen. Rote Lederstiefel, schwarze Beerdigungsstiefel. Er hängte die Lammfelljacke mit dem getrockneten Blut in den Ärmelaufschlägen ein letztes Mal neben die Mäntel der Mädchen. Grüne Waldmäntel, kobaltblaue Wintermäntel. Die Schönheit war noch da, überall. Nur die Mädchen fand er nicht.
    Er ging durch ein leeres Haus. Als wäre alles vorüber.
    Und dann, auf einmal, begann auch die Schönheit zu bröckeln. Jari sah die Risse im Mauerwerk wieder, er sah, dass es Stellen gab, an denen die Wand schimmelte. Sah, dass die Teppiche hier und dort von Motten zerfressen waren, sah die Ecken, in denen Spinnweben hingen und Staub lag. Er erinnerte sich daran, dass er all dies schon einmal gesehen hatte, zu Beginn seiner Zeit im Wald. In einem anderen Leben, in dem er noch kein Mörder gewesen war. Damals hatte er weggesehen. Jetzt zwang er sich, hinzusehen, zwang sich, den Makel zu sehen.
    Die Schönheit war nicht perfekt, sie war eine Kulisse. Die Kulisse eines sorgfältig inszenierten Stücks, hinter der das Hässliche lauerte. Es war schwer, sich das einzugestehen, es tat weh. Er war zu sehr Teil des Ganzen geworden. Er sah sich in den Spiegeln, während er durch das Haus ging, sah sich dutzendfach und hatte das Gefühl, dass es etwas bedeutete. Dass die Spiegel etwas bedeuteten. Aber er kam nicht darauf, was.
    »Joana?«, flüsterte er. »Jolanda? Jascha? Wo seid ihr?«
    Niemand saß in der Küche auf der Eckbank, niemand stand am Gasherd und füllte den Raum mit dem Duft von Gewürzen. Niemand spielte auf dem Fensterbrett Oboe, niemand lag auf dem Sofa im Kaminzimmer. Die Felle zwischen den Kissen waren abgewetzt und stellenweise blank, auch das hatte Jari zuvor nie gesehen. Die Asche war kalt. Harfe und Cello standen verlassen in einer Ecke. Die spanische Wand schien ihn anzustarren, als wären ihre geschnitzten Löcher Augen. Einen Moment glaubte er, die Mädchen versteckten sich dahinter, doch als er um die Wand herumging, lehnten dort nur zwei blinde Schneiderpuppen. Neben ihnen, auf dem polierten hölzernen Kasten, stand einsam der kleine Tisch mit den Notenblättern. Jari streckte die Hand aus, um den Kasten aufschnappen zu lassen, gedankenverloren. Da hörte er jemanden seinen Namen rufen. Seinen Vornamen, der sich nie geändert hatte, der der Name des Tischlers und des Wanderers und des Jägers gewesen war und nun der Name eines Verlierers

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