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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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alte Herr lag seit siebenundzwanzig Tagen in der Erde des Kartoffelkellers begraben, als der Wilderer kam. Sie fanden ihn im Nebel. Der Nebel war ihr Freund, sie verliefen sich seit Langem nicht mehr darin; sie zogen seine weißen Schwaden an wie andere Kinder alte weiße Nachthemden und spielten Gespenst, Prinzessin, Schneekönigin.
    An jenem Tag im März entdeckten sie im Nebel die ersten violetten und gelben Blüten, die den Frühling ankündigten. Und mitten in den Blüten stand ein fremder Mann. Zuerst erschraken sie. Doch der fremde Mann sah sie nicht in ihren Nebelkleidern, es war, als wäre er blind im Nebel, und sie mussten ein Kichern unterdrücken. Sie beobachteten ihn, wie er mit den Schwaden kämpfte, wie er mit seinem Gewehr herumfuchtelte, als könnte er sie damit beeindrucken.
    Und schließlich brach das Kichern doch aus den kleinen Mädchen heraus. Eines von ihnen trat vor und fasste den Mann am Ärmel. Er starrte sie an wie eine Erscheinung.
    »Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte das kleine Mädchen. »Aber Sie haben sich verirrt. Wollen Sie mit uns kommen?«
    »Uns? Wer ›uns‹?«, fragte der Mann. »Wohin? Wer bist du?«
    »Ich bin eine von dreien«, antwortete das kleine Mädchen. »Die anderen warten hinter den Nebeln. Allerdings werden Sie uns nicht unterscheiden können. Wir wohnen hier, im Wald. Ganz nah. Es gibt ein Kaminfeuer. Es wäre schön, einmal Besuch zu haben.«
    Der Mann hängte das Gewehr wieder über die Schulter und schüttelte den Kopf. Er war alt. Nicht so alt wie der alte Herr, der gestorben war, aber doch alt, verglichen mit einem Geschöpf, das erst elf Jahre zählte. Vielleicht so alt, wie ihr Vater es gewesen war. Er trug einen Stoppelbart, Militärhosen und eine sehr hässliche Jacke, und sie wusste bereits in dem Moment, als sie ihn sah, dass sie ihm eine andere geben mussten.
    »Ich weiß nicht, ob es dich wirklich gibt«, sagte der Mann, während er dem Mädchen folgte.
    Sie hörte ihre Schwestern durchs Unterholz huschen wie kleine Vögel. Irgendwo sang eine Nachtigall. Sie ging rascher, zog den Mann mit sich. Sie wollte jetzt nicht an die Nachtigallen denken.
    Als sie die Küche betraten, hörte sie, wie er aufatmete. Er betrachtete den Strauß aus frischen Apfelzweigen in der Vase auf dem Fensterbrett und lächelte. Sie blühten beinahe schon, die Zweige.
    Der Mann setzte sich auf die Küchenbank, und sie kochte Kaffee.
    »Die anderen kommen gleich«, sagte sie. »Sie sind noch draußen, Holz holen für den Kamin. Wir leben ganz alleine hier, seitdem der alte Herr gestorben ist, wissen Sie? Es gibt eine Menge Arbeit. Man muss das Grundwasser in den Wasserturm hochpumpen und die Öfen anheizen, Holz hacken, Dinge anpflanzen … Und was machen Sie im Wald?«
    »Ich komme von der tschechischen Seite«, antwortete der Mann. »Ich … jage. Aber ich bin kein offizieller Jäger, wenn du verstehst.«
    »Kein offizieller Jäger?«
    »Ein Wilderer, meine Kleine. Es gibt genug Wild in den wilden Wäldern. Sie schaffen es nie, genügend abzuschießen. Ich verkaufe die Stücke, die ich schieße, unter der Hand. Es lohnt sich.«
    »Und ab und zu gehen Sie nach Hause und bringen das Geld Ihren Kindern und Ihrer Frau?«
    Er lachte und schüttelte den Kopf. Er hatte keine Kinder und keine Frau.
    Sie goss Kaffee in eine Tasse und setzte sich neben ihn. Etwas an seinem Dreitagebart, seinem rauen Lachen zog sie an. Sie rückte näher, sodass sie ihn beinahe, aber nur beinahe, mit ihrem Bein berührte.
    »Vielleicht möchten Sie bleiben?«, flüsterte sie und legte eine Hand auf sein Knie. Sie hatte noch nie eine Hand auf irgendjemandes Knie gelegt, und es fühlte sich neu und gewagt an. Sie war erst elf, aber sie fühlte sich viel älter. Die anderen würden es natürlich nicht verstehen, sie verstanden nie etwas. »Vielleicht möchten Sie eine Weile bleiben und uns beschützen? Im Wald sind Wölfe. Man sagt, ab und zu reißen sie einen Menschen, zerfetzen ihn und lecken sein Blut … Wölfe fressen gern kleine Mädchen, das weiß man ja aus den Märchen.« Sie wickelte eine Strähne ihres glänzenden schwarzen Haares um den kleinen Finger, wickelte sie wieder ab, sah ihn von der Seite an.
    Er erwiderte ihren Blick, amüsiert.
    »Wenn es wärmer wird, baden wir draußen im See. Er ist tief und schwarz, und man kann seine Kleider am Ufer auf einen Felsen legen …«
    »Eine Weile könnte ich bleiben«, sagte der Wilderer und trank seinen Kaffee aus. »Euch beim Holzhacken

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