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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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war.
    »Jari! Jari!«
    Und dann wusste er, woher die Stimme kam. Aus dem Keller. Er war hundertmal an der Kellertür vorübergegangen, sie befand sich genau neben der Garderobe. Er hatte die Tür nie geöffnet. Jetzt legte er die Hand auf die Klinke – doch die Tür war abgeschlossen.
    »Jascha?«
    »Jari! Sie haben mich eingeschlossen!«
    Er sah sich blitzschnell im Flur um. Wohin hatten sie den Schlüssel gelegt? Hatten sie ihn mitgenommen, oder war er hier? Das Kobaltblau der drei Mäntel leuchtete ihm entgegen wie ein Signal. Aus der Tasche eines Mantels hing ein flacher Stein, vielleicht aus dem dunklen Auge, vom Wasser geglättet. Hing? Ein Stein? Etwas musste sich am anderen Ende des Bandes befinden, das um den Stein geschlungen war. Jari griff in die Manteltasche und fühlte den Schlüssel. Er steckte ihn ins Schloss der Kellertür; der Schlüssel passte. Und die Tatsache, dass er passte, dass alles so einfach war, passte wiederum zu der Endzeitstimmung, die von Jari Besitz ergriffen hatte. Wenn alles endete, war es nicht mehr nötig, Schlüssel zu verstecken.
    Er hatte die Tür einen Spaltbreit geöffnet, als ihm ein anderer Gedanke kam.
    »Jascha?«, rief er hinunter. »Du bist doch Jascha?«
    »Kann ich es dir beweisen?«
    »Nein«, sagte er. »Doch. Sag mir – an welchem Tag haben wir zum ersten Mal in dem Bett im Gästezimmer miteinander geschlafen, ohne die anderen? Nur wir beide?«
    »Nie«, antwortete sie, ohne eine Sekunde zu zögern.
    Da öffnete er die Tür und lief die Kellertreppe hinunter, ihrer Stimme entgegen. Am Rand der Stufen lagen Tannenzapfen oder gemaserte Steine. Sie konnten es nicht lassen, dachte Jari: Ihre Besessenheit, sich mit Schönheit zu umgeben, machte selbst vor Kellertreppen nicht halt.
    Von unten drang ein rötlicher Lichtschein herauf. Dort irgendwo musste Jascha sein.
    Jari erreichte den Fuß der Treppe und blieb stehen, zögernd. Es knallte am anderen Ende des Raumes, als wäre etwas heruntergefallen, und er zuckte zusammen. Aber zunächst konnte er wenig erkennen. Als sich seine Augen an das dämmerige rote Licht gewöhnt hatten, sah er, dass Jascha nicht gelogen hatte. Er stand in einem Meer von weißen Blumen, in Töpfen, in Körben, in Trögen, einem Meer, in dessen Mitte sich ein kunstvoll geschnitztes großes Holzkreuz erhob.
    Das Grab des alten Herrn.
    Er stand in einer Gruft.
    Der rote Schein stammte von einem Dutzend ewiger Lichter, Grablichter in roten Plastikhüllen. An den Wänden gab es Regale, die Lebensmittel hätten enthalten können oder enthalten hatten, auf einigen lagen noch vereinzelte Zwiebelschalen oder Brotkrumen. Doch die Regale waren leer, bis auf eine einzige Weinflasche; ein vergessenes Relikt.
    Jari ging auf einem schmalen Weg zwischen den Blumen hindurch. Der Keller bestand aus einem einzigen, lang gestreckten Raum. Er schritt ihn einmal in seiner vollen Länge ab, ohne jemanden zu finden. Am anderen Ende des Raumes gab es eine zweite Tür, die nach draußen führen musste. Sie war verschlossen. Der Knall. Kein Gegenstand, der von einem Regal gestürzt ist, dachte Jari. Eine Tür ist zugefallen.
    »Jascha?«, fragte er laut und drehte sich um.
    In diesem Moment fiel auch die andere Kellertür am Ende der Treppe ins Schloss. Er rannte die Stufen hinauf – der Schlüssel war fort. Er rief noch einmal, in die lange, rot beleuchtete Gruft hinein: »Jaschaaa!«
    Seine Stimme hallte an den Wänden wider. Er ging die Treppe ein zweites Mal hinunter und streckte die Hand nach einer der weißen Blüten aus. Sie war aus Stoff. Natürlich, das Kerzenlicht hätte echten Blumen nicht zum Leben ausgereicht. Alles hier war falsch, alles bis auf das Grab vielleicht. Alles war nur Trug: die Blüten. Jaschas Stimme. Das Gefühl, dass alles endete und alles jetzt einfach war.
    Vielleicht endete alles. Doch es endete nicht gut für ihn.
    Er war den Mädchen in die Falle gegangen.
    Armes Singvögelchen.
    Seine Eltern hatten keine Ahnung, wo er war. Matti war tot. Und Jascha – gab es Jascha überhaupt? Hatte es sie je gegeben? Oder war sie eine Erfindung der anderen beiden, eine Marionette, von Joana und Jolanda ins Leben gerufen, um ihn, Jari, in ihrer Gewalt zu behalten?
    »Nein«, flüsterte er. »Nein, das kann nicht sein. Es gibt dich. Ich bin sicher. Nur – wo bist du in diesem Moment?«
    Der Erste hatte große Pläne. Er sprach von der Renaturierung eines Hochmoores, Bäume mussten gefällt werden, Bachbetten eingeebnet, seltene Blumen und

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