Solange die Nachtigall singt
schlafen, so ruhig und still.«
Er hörte leise Schritte hinter sich. Es war eines der Mädchen, und jetzt trat sie neben Jari an Brankos Grab. Der Mantel, den sie trug, war schwarz, bestickt mit winzigen Äpfeln wie mit roten Tropfen. Sie sah Jari nicht an, es war, als bemerkte sie ihn nicht einmal.
»Branko«, sagte sie. »Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen. Schlaf. Schlaf lange und tief. Ich werde dich vermissen.« Damit nahm sie eine Handvoll Erde, warf sie auf das Grab und ging zurück in den Wald, sehr aufrecht in ihrem schwarzen Mantel.
Jari griff zum Spaten, um den toten Körper mit Erde zu bedecken. Doch die Äste teilten sich ein zweites Mal, und ein zweites Mädchen in einem identischen schwarzen Mantel trat an Brankos Grab, ebenfalls, ohne Notiz von Jari zu nehmen.
»Branko«, sagte sie. »Ich bin gekommen, um dir Adieu zu sagen. Träum. Träume lange und wunderschön. Ich werde an dich denken.« Auch sie warf eine Handvoll Erde auf Brankos stillen Körper, und Jari wartete, auf seinen Spaten gestützt, auf die dritte Schwester.
Und sie kam. »Branko«, sagte sie. »Ich bin gekommen …« Sie verstummte und strich ihr Haar zurück. An ihrem Hals gab es keine Narbe. Jetzt wischte sie sich mit der Hand über die Augen – und Jari merkte, dass sie keine Handschuhe trug. Ihre Hände waren schön, schmal und blass, keine von ihnen verstümmelt.
Sie warf keine Erde auf das Grab. Sie griff in die Tasche ihres schwarzen Mantels und holte eine Handvoll Samenkapseln hervor, zyklam und orangefarben, Pfaffenhütchen. Sie fielen wie winzige leuchtende Funken in Brankos blutverschmierte Hände.
»Jascha«, flüsterte Jari.
Sie nickte.
Da begann er, das Grab endlich zuzuschaufeln, und am Ende traten sie die Erde gemeinsam fest. In Jaris Tasche befand sich ein Vorrat an roten Beeren aus dem Wald, doch diesmal legte er damit kein Kreuz. Er hatte genug von Kreuzen. Er ordnete die Beeren zu einem Kreis auf der dunklen Erde an, ein Kreis war unendlich, ohne Anfang, ohne Ende, ein besseres Symbol für den Tod. Und für das Leben.
Nachdem Jari die letzte Beere in den Kreis gelegt hatte, stand er auf und schloss Jascha in seine Arme. Sie standen lange mitten auf Brankos Grab, in dem Kreis aus Beeren, und küssten sich. Es verwunderte ihn ein wenig, dass sie ihn küsste. Ihre Zunge war fordernd, noch viel fordernder als damals auf der Lichtung mit den Fliegenpilzen. Vielleicht war auch das eine Art, Halt zu suchen; eine Art, die er bisher nicht gekannt hatte. Es war nicht unangenehm.
»Jari«, sagte sie schließlich, nach Atem ringend. »Wann wirst du gehen?«
»Ich habe dir gesagt, dass ich nicht gehe.«
»Du musst gehen. Du weißt das. Schau, was mit Branko passiert ist. Sie wissen jetzt, dass du sie verraten hast. Dass du ihnen nicht mehr treu bist. Was ist, wenn sie beschließen, auch dich von deinen Leiden zu erlösen?«
»Und du?« Er hielt sie auf Armeslänge von sich ab, der Apfelkreis ließ gerade genug Platz dafür. »Was, wenn sie beschließen, auch dich zu erlösen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht hier bei ihnen lassen. Jascha, ich … ich liebe dich. Ich war mir nicht sicher, aber es ist wahr.«
Sie schüttelte den Kopf, beinahe ungeduldig. »Wann soll ich dich zur Klamm bringen? Noch heute Nacht?«
»Zur Klamm?«, fragte er. »Die Klamm finde ich auch alleine. Hast du nicht gesagt, sie ist nicht mehr sicher? Wolltest du mir nicht den Weg über den Steilhang daneben zeigen?«
»Ja«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ja, natürlich. Dumm von mir. All das …« Sie zeigte auf das Grab unter ihnen. »Es bringt mich ganz durcheinander.«
Er musterte sie noch einmal. Und plötzlich war es, als zöge eine unsichtbare Macht den Boden unter seinen Füßen weg.
»Nein«, sagte er langsam. »Nein, das tut es nicht. Du bist nicht durcheinander.« Er zog sie aus dem Beerenkreis und betrachtete sie genauer. Nahm ihre Hände in seine. Fünf Finger. An jeder Hand.
»Jari … Jari, was tust du?«
Er strich ihr mit beiden Händen über die Wangen, vielleicht tat er ihr unrecht, vielleicht beging er wieder einen Fehler … Seine Finger glitten über ihre perfekten Ohrmuscheln – und dann fand er eine winzige Unebenheit unter einer von ihnen. Eine Linie in der blassen, glatten Haut. Er hätte sie nie gefunden, wenn er nicht danach gesucht hätte. Er kratzte mit dem Fingernagel daran, ehe sie sich wehren konnte, löste den Beginn von etwas und riss es ab. Dann taumelte er
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