Solange die Nachtigall singt
helfen und im Haus. Ich bin gespannt darauf, deine Schwestern kennenzulernen.«
Sie nickte, eine Hand noch immer auf seinem Knie. Er sah das Blitzen in ihren Augen.
»Und wie heißt du?«, fragte er. »Wie rufe ich dich, wenn ich dich da draußen im Nebel verliere?«
Sie rückte noch ein wenig näher, beugte sich zu ihm, als wäre ihr Name ein Geheimnis.
»Joana«, flüsterte sie.
»Was … was ist mit Branko?«, fragte Jari. »Wo ist er jetzt?«
»Noch immer in der Höhle«, antwortete Jolanda und fuhr über die Narbe unter ihrem Ohr.
»Armer Branko«, sagte Joana. »Seine Hände waren blutig. Wie damals. Wie in seinen schlimmsten Albträumen. Warum hast du das getan, Jäger?«
Jari schwieg. Es gab nichts zu erklären. Nicht mehr. Das Spiel hatte sich gegen ihn gewandt. Er war dabei, zu verlieren, die Karten und Würfel entglitten seinen Händen schon, er fühlte es.
»Wir haben ihn von seinen Leiden erlöst«, flüsterte Joana. »Es war zu viel für ihn.«
»Erlöst?«
Sie nickten, genauso synchron, wie sie zuvor die Köpfe geschüttelt hatten. »Für immer.«
Jari schluckte. »Er ist … tot?«
»Er war schon zuvor tot. Jedenfalls hat der Jäger das behauptet. Sein Grab ist auf der Lichtung bei Tronkes Hochsitz. Es ändert also nichts.«
»Branko«, murmelte Jari. Er ging zum Fenster und sah hinaus in den Schnee. Die Sonne schien nicht an diesem Morgen. Der Schnee war grau. Die Schatten der Bäume malten Muster auf den freien Platz vor dem Haus wie Federn, graue Nachtigallenfedern.
»Er ist in meinen Armen eingeschlafen«, sagte eines der Mädchen hinter ihm, er wusste nicht, welches. »Ganz ruhig. Es war besser für ihn.«
»Natürlich«, sagte Jari bitter. »Es ist immer besser. Besser für Branko, besser für die Nachtigallen.«
Er schloss die Augen und sah das Bild vor sich, das eine von ihnen malen und das niemand in der Galerie verstehen würde: Mitten in einem wunderschönen verschneiten Märchenwinterwald, im Eingang einer dunklen Höhle, sitzt in einem Sonnenstrahl ein junges Mädchen. Sie hält den Kopf eines schlafenden Mannes im Schoß und in der Hand ein weißes Tuch – als hätte sie dem Mann damit zuvor die Stirn abgewischt. Ein Bild, voll von einem großen, alles umfassenden Frieden. Und niemand, der es betrachten würde, wüsste, was geschehen war.
Eine Hand legte sich von hinten auf Jaris Schulter.
»Wirst du ihn für uns aus der Höhle tragen? Zu seinem Grab auf der Wiese? Er ist zu schwer für uns, aber er soll ein schönes Grab haben, nicht wahr? Im Frühjahr werden wir Blumen darauf pflanzen.«
Jari nickte. »Ich hole ihn«, sagte er.
Branko lag still auf dem Rücken, mitten in der Höhle. Sie hatten seine Augen geschlossen. Jari war dankbar dafür. Sie hatten auch den Draht gelöst. Branko hatte daran gezogen. Blut bedeckte seine Handflächen, trocken und dunkel jetzt.
Jari war allein, die Mädchen hatten ihn nicht begleitet.
»Ich hätte dich laufen lassen sollen«, flüsterte er. »Ein zweites Mal. Vielleicht wärst du ja diesmal gegangen. Es war ein Fehler. Alles, was ich hier im Wald getan habe, war ein Fehler. Alles, bis darauf, Jascha zu küssen. Branko, konntest du lieben? Hast du eine von ihnen geliebt? Bist du deshalb zurückgekommen?«
Jari wusste, dass Branko nie mehr antworten würde. Er würde nie mehr singen. Er würde auch, dachte Jari, nie mehr gegen die Wände einer Höhle anrennen, deren Ausgang eine Erinnerung verbarrikadierte, nie mehr Albträume von der Erinnerung an den Tod durchleben, den er aus dieser Höhle getragen hatte. An diesem Tag war es Jari, der den Tod auf seine Schultern hob, und der Tod wog schwer wie stets. Er ging langsam, Schritt für Schritt, als wäre er Teil eines stummen Trauermarsches, der aus einer einzigen Person bestand.
Auf der Lichtung steckte ein Spaten im Schnee, ein richtiger Spaten, dazu gemacht, große Löcher auszuheben. Jari stach ihn in die lockere Erde neben dem Grab des Rehs, arbeitete, so rasch er konnte, arbeitete sich die Verzweiflung aus dem Körper. Und die Schuld.
Das Gewehr lag neben ihm im Schnee. Er wusste nicht einmal, weshalb er es mitgenommen hatte – aus reiner Gewohnheit vermutlich.
Schließlich hievte er Branko in die Grube und betrachtete ihn einen Moment.
»Wenn Jascha nicht wäre«, flüsterte er. »Weißt du, Branko, dann hätte ich große Lust, mich einfach neben dich zu legen. Ich kann die Jäger jetzt verstehen, die im dunklen Auge schlafen. Schön muss das sein, dort zu
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