Solange die Nachtigall singt
sie haben das dritte kleine Mädchen nicht getötet, nur das dritte nicht. Es war so ungerecht.«
Sie legte die Hände über die Augen, um sich gegen das Licht zu schützen, und begann zu singen, ganz leise, eine letzte Strophe ihres Liedes:
»Still, still, meine Nachtigall,
still, still.
Und wenn die Nacht geht
und der Wind nicht mehr weht
und wenn es Tag werden will,
hör ich manchmal dein Lied,
das durch die Nebel zieht,
still, still.«
Dann rollte sie sich zu einer Kugel zusammen, und ihr Atem ging wieder regelmäßig. Sie schlief, so tief wie zuvor. Jari sah ihren Körper noch eine Weile an, ehe er sie wieder zudeckte.
Da lag sie neben ihm. Eine Mörderin.
Sie war in bester Gesellschaft.
Hier lag er neben ihr, der Jäger, der Mörder.
Ein Mörder und eine Mörderin.
Waren sie wirklich tot? Joana und Jolanda? Hatte Jascha sie ein für alle Mal freigelassen, sie sterben lassen, endlich? Er würde nie wissen, ob sie nicht eines Tages wiederkamen. Ob sie nicht unter der Oberfläche lauerten, zwischen den Zeilen, hinter den Schatten. Ob sie nicht wiederauftauchten, um ihre Spiele zu spielen. Um Leben einzufordern, um Rache zu nehmen an der Welt für ihren frühen Tod. Er konnte nicht sicher sein. Er konnte nur hoffen.
Er legte die Arme wieder um sie. Sie war warm und lebendig. Er hatte Angst vor ihr. Aber er liebte. Er hatte versprochen, bei ihr zu bleiben. Das Leben wartete auf sie, auf sie und auf Mattis Kind: das kleine Mädchen, das nicht Teil einer Einheit war, sondern von Anfang an, bereits jetzt, ein Selbst. Es brauchte sie, sie beide. Sie würden es beschützen, vor allem Bösen und Kalten auf der Welt, es würde sicher schlafen in ihren Armen. So, wie Jascha jetzt sicher schlief in Jaris Armen.
Obwohl nie jemand vor irgendetwas sicher ist. Alles ist unsicher. Alles kann immer passieren.
Solange die Nachtigall singt.
Transparent
Das Meer war weit und blau, und Jascha spürte Jaris Hand in ihrer. Der Wind zerrte an ihrem Haar. Sie zog den Reißverschluss der gelben Regenjacke mit der freien Hand zu. Die Regenjacke war weder schön noch hässlich, sie war einfach eine Regenjacke, funktionell. Vor ihnen, am Strand, war eine andere gelbe Jacke unterwegs, eine Kinderjacke, und durch die Luft wirbelte ein Kinderlachen, Kinderworte.
»Kommt! Kommt!«
Auf dem Wasser blühten weiße Schaumblüten, Seeglöckchen, Wellenblümchen. Es war Frühling.
Das Kind kam jetzt über den Sand heraufgerannt, seine roten Gummistiefel leuchteten wie zwei Farbkleckse. Jascha lächelte. Mathilde.
»Ich … ich muss euch was zeigen!«, rief Mathilde. »Wenn man da vorne weitergeht, um diese Ecke der Küste … Wir sind da noch nie hingegangen, immer nur in die andere Richtung. Aber da ist was! Kommt!«
»Wenn man um diese Ecke geht, geht man im Wind«, sagte Jari. »Es ist kalt dort …«
»Wir rennen«, sagte Mathilde. »Dann wird uns warm.«
Sie zog an Jaris Hand, und er zuckte die Schultern, hilflos, und rannte mit ihr. Jascha folgte ihnen, langsamer, die Hände in die gegenüberliegenden Ärmel der gelben Regenjacke gesteckt. Ihre roten Gummistiefel hinterließen Spuren im Sand, die der Wind sofort verwehte, wie Spuren im Schnee, Spuren im Wald.
Aber der Wald war weit, weit fort. Das grüne Labyrinth bei der dreifachen Ländergrenze, in dem man nie wusste, wo man sich befand, war lange hinter ihr zurückgeblieben; die Welt hier war klar und hell, der Blick reichte weit, es gab keine Unsicherheiten und keine Geheimnisse mehr. Nur manchmal sah Jascha noch Bäume aus dem Meer wachsen, die sie einkreisten, ihr die Luft abdrückten … und sie zugleich umarmten wie eine Heimkehrerin. Dann schloss sie die Augen, blinzelte die Vision fort. Da waren keine Bäume, natürlich nicht, der Strand war nur der Strand, und das Meer war nur das Meer.
Sie holte die beiden erst in der nächsten Bucht ein, durch die der Wind vom offenen Meer her pfiff. Es war wirklich kälter hier. Mathilde stand am Ufer, mit ihren Stiefeln halb im Wasser, und zeigte voller Begeisterung auf etwas, das dort lag: einen Baum. Einen großen, toten Baum, umgestürzt oder angespült. Seine Äste waren kahl – blätterlos, rindenlos, glatt, von Salz und Sonne gebleicht wie ein Knochen. Er musste schon lange dort liegen, jahrelang; die herausgerissenen Wurzeln an seinem Ende waren tief in den feinen Sand eingesunken. Sein Stamm führte ins Wasser hinaus wie eine Einladung zum Horizont.
»Ist der nicht toll zum Balancieren?«, fragte
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