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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Narbe am Bein zuerst wieder, die, die er schon immer als ihre gekannt hatte. Dann fand er die Narbe an ihrem Oberarm. Er erinnerte sich daran, wie sie am ersten Tag das durchsichtige Stück Folie von ihrem schiefen Lächeln gezogen hatte und ihr Mund ebenmäßig und schön geworden war. Er erinnerte sich, wie er das Stück Gaze von der verborgenen Narbe unter Jolandas Ohr abgerissen hatte. Er erinnerte sich plötzlich an viele Kleinigkeiten. Viele winzige Ungereimtheiten.
    Die Tatsache, dass sie stets die gleiche Kleidung getragen hatten, wenn er sie alle drei gleichzeitig sah. Der perfekt symmetrische Stern aus Knien und Armen auf dem Bett, den er durch ein Schlüsselloch beobachtet hatte. Und später, als Jari selbst zu Gast gewesen war in jenem Bett … Er hatte geglaubt, er könnte nicht mehr zwischen Puppen und Menschen unterscheiden, zwischen blinden Gesichtern und lebendigen Körpern. Und sie waren da gewesen, die Puppen. Sie waren immer Teil des Spiels auf dem Bett gewesen, Teil der perfekten Täuschung. Die Fliegenpilze und der Wein hatten seinen Blick stärker vernebelt, als er gedacht hatte.
    Er lächelte. Aus irgendeinem Grund lächelte er. Er strich ihr weißes Haar zurück, auf einmal seltsam ruhig. Und da war sie: die Narbe unter dem Ohr.
    »Es war immer nur ein kleines Mädchen, nicht wahr?«, flüsterte er. »Jascha, es war immer nur eines! Die anderen beiden Mädchen hat er erschossen. Das dritte kleine Mädchen lag ganz unten, unter den toten Körpern. Es hat sich aus einem Berg von Blut und Tod hervorgearbeitet, um zu leben. Da war immer nur eine Schwester. Joana, Jolanda, Jascha – alles eins. Branko hat es gewusst, aber ich habe ihn nicht verstanden. Branko hat es gewusst, weil er dich gefunden hat, lange ehe ich dich fand. In der Höhle, vor zehn Jahren. Und die Musik … im Kaminzimmer … Jetzt verstehe ich, warum sich zwei von euch immer im Hintergrund hielten, im Schatten der spanischen Wand. Zwei waren nicht da. Nie.«
    Sie regte sich jetzt im Schlaf, drehte sich halb zu ihm, er wusste nicht, ob sie wach war oder ob sie im Schlaf sprach; ob sie sich am nächsten Tag daran erinnern würde, was sie oder dass sie etwas gesagt hatte.
    »Ein Grammofon«, flüsterte sie.
    Er nickte, noch immer lächelnd. »Schneiderpuppen und ein Grammofon. Natürlich.«
    »Aber sie waren da«, wisperte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Jari, für mich waren sie da. Wir waren eine Einheit. Im Lieben und im Hassen. Die Federn … ich habe sie am Leben erhalten. Ich konnte es. Die Nachtigallen … sie brauchten die Seelen der Nachtigallen. Es war ein Märchen. Unser Vater hat uns solche Märchen erzählt. Ich habe auch eines erzählt, mir selbst. Ich habe die Nachtigallen geopfert. Die Steine haben die Federn beschwert, damit sie nicht wegfliegen konnten. Solange sie die Seelen der Nachtigallen bekamen, blieben sie am Leben, Joana und Jolanda. In mir. Es ist nicht wahr, dass sie gestorben sind. Sie waren da .«
    Jari lag ganz still und lauschte ihrem Gemurmel. Die seltsame Ruhe, die über ihn gekommen war, lag noch immer in seinem Herzen, schwer wie ein Felsbrocken.
    Und doch warst das nur du, dachte er. Du hast den Handschuh beim Oboespielen getragen, wenn du Joana warst. Du warst ernst und kühl als Jolanda. Du, nur du hast mich in den Keller gelockt und zum schwarzen Auge. Und du hast dich selbst eingeschlossen, damit Matti dich mit dem zweiten Schlüssel befreien konnte. Du hast mir erklärt, du wärst Jungfrau. Und du hast es geglaubt. Es waren die anderen, die sich deinen Körper geliehen haben für ihre Spiele auf dem Bett, ihre Spiele mit den Jägern, dem ersten, dem zweiten, dem dritten. Du hast mich ins Wasser geschickt und mich aus dem Wasser gerettet.
    Sie war verrückt.
    Und er liebte sie dennoch, oder dafür. Er konnte nichts dagegen tun.
    »Sie waren immer schon so … fordernd«, flüsterte Jascha. »All diese kleinen Seelen! Ich wollte es irgendwann nicht mehr, ich bekam Angst, wenn ich eine Nachtigall singen hörte, weil ich wusste, dass ich sie töten musste. Ich kann sie locken …« Sie spitzte die Lippen, noch immer, ohne die Augen zu öffnen. Als wollte sie pfeifen. Doch sie blieb stumm. »Nein. Ich kann es nicht mehr«, flüsterte sie erstaunt und blinzelte, als wollte sie doch noch ganz erwachen.
    »Es ist so hell … Sieh mich nicht an, wenn es so hell ist, du siehst all die hässlichen Narben! Die Kugeln sind durch das Fleisch der beiden anderen gedrungen, bis nach unten, aber

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