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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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du weiter deine Schauergeschichten erzählen.«
    Aber das zweite kleine Mädchen schwieg, denn in seinem Herzen hatte es mehr Angst als die beiden anderen zusammen.
    Er konnte nicht ewig hier stehen bleiben, neben dem Tierkadaver. Er musste irgendwohin gehen. In irgendeine Richtung. Geradeaus.
    Er streckte die Hände vor sich wie ein Schlafwandler und tastete sich vorsichtig durch den Wald. Jedes Mal, wenn seine Finger gegen einen Baum stießen, zuckte er zusammen. Er konnte verstehen, weshalb die Leute aus dem Dorf es vermieden, herzukommen.
    »Nebelforst, Schattentann, Dunkelwald«, flüsterte er, und die Worte begannen ein verstörendes Eigenleben in seinem Kopf. »Walle-Nebel, Frost-Dunkel, Tarnschatten …«
    Er blieb stehen. Waren da nicht Schritte gewesen, ganz nah? Atmete dort nicht etwas, irgendwo hinter ihm? »Jascha?«, fragte er. Nichts. »Ist da jemand? Irgendjemand?«
    Er rannte jetzt wieder, panisch, stieß gegen Stämme, fiel, stand wieder auf, rannte weiter. Das Blut sang in seinen Ohren. Es war ihm unbegreiflich, dass er den Nebelwald zu irgendeiner Zeit als erotischen Ort empfunden hatte. Der Nebelwald war tödlich.
    Und dann stolperte er, etwas hielt seine Füße fest; er fiel kopfüber in biegsames, nachgiebiges Gebüsch und versuchte vergeblich, sich hochzukämpfen – da waren Widerhaken, die sich in seine Kleidung bohrten. Blut rann über seine bloßen Arme, Blut aus tausend kleinen, brennenden Wunden. Wo war er? Was war geschehen?
    Schließlich gab er auf und lag still.
    Und da drang ein Geräusch durch den Nebel zu ihm. Ein Weinen. Ein Wehklagen. Ein Heulen. Es glich dem Geräusch, das er in der Nacht gehört hatte, und war doch anders.
    »Weint nur«, flüsterte Jari. »Klagt nur um den Zeisig, der verloren ist. Kleiner, dummer Vogel …«
    Das Heulen war jetzt ein wenig näher. Nein, dies war nicht das Klagen, das er in der Nacht gehört hatte. Dies war ein Heulen aus vielen Kehlen.
    Wölfe.
    Das Heulen kam noch näher. Jetzt hörte er Äste unter Pfoten brechen. Vielleicht war er vorhin vor seiner eigenen Einbildung, vor seinen eigenen Schritten geflohen, doch jetzt war er sich sicher, dass es Wölfe waren, die er hörte, denn er selbst lag ganz still und verursachte kein Geräusch. Er hatte es stets faszinierend gefunden, zu wissen, dass es hier oben Wölfe gab, es war gut, die Natur zurückzubringen in den Zustand, in dem sie einmal gewesen war, die Wölfe gehörten hierher. Aber er, der Zeisig, er gehörte nicht hierher. Er war erst seit ein paar Wochen achtzehn, er wollte nicht sterben.
    Jari merkte, dass Tränen über sein Gesicht liefen. Er bekam eine Hand frei und wischte sie fort, Tränen und Blut aus lauter winzigen Schnitten, und als er die Augen öffnete, sah er, dass die Nebelschwaden leise, leise beiseitezogen. Er starrte seinen Unterarm und die Wunden darauf an. Die Haut war zerkratzt wie von Krallen. Dann sah er, worin er lag. Brombeeren. Es war nur ein Brombeergestrüpp, in dem er sich verheddert hatte wie in einem Ballen von lebendem Stacheldraht.
    Beinahe hätte er gelacht. Doch die Wölfe waren noch immer da. Hatten sie seinen Geruch in der Nase? Woher kam der Wind? Es schien keinen Wind zu geben, der Nebel hatte auch den Wind verschluckt.
    Als hätte der Wind Jaris Gedanken gelesen, fuhr er plötzlich zwischen die Nebelschwaden, wütend beinahe, wie um zu zeigen, dass er keinesfalls besiegt wäre, und trieb die weißen Fetzen auseinander. Jari beobachtete, wie sie sich wanden und auflösten.
    Und dann sah er den Wolf. Er sah nur einen, doch er wusste, dass im Schatten hinter ihm noch mehr standen. Der Wolf sah ihn nicht an. Er hob den Kopf und witterte. Die Äste der Bäume in diesem Stück Wald waren nahezu kahl, er war voller toter Bäume, bedeckt mit silbernen Flechten, die der Wind jetzt anhob und flattern ließ wie langes Haar. Und dazwischen stand der Wolf, wie ein Bild. Er war schön.
    Schließlich senkte er den Kopf, um einer Spur zu folgen, und lief davon, und drei oder vier weitere folgten ihm. Jari lauschte dem Rascheln ihrer Pfoten lange nach, bis es sich in der Ferne verlor. Dann atmete er tief durch und begann, sich aus den Brombeeren herauszuarbeiten.
    »Jascha«, flüsterte er, als er schließlich wieder auf den Beinen stand, sein T-Shirt zerrissen, seine Arme übersät mit den Spuren der Dornen, »hier stehe ich wie ein Idiot. Cizek, der Idiot, der in den Schlamm fällt, der in die Brombeeren fällt, der den Ackergaul spielt und sich in deiner

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