Solange die Nachtigall singt
Spiegelwelt verirrt. Der dir nachläuft und etwas will, was er nicht bekommt. Jascha, wenn ich dich je wiederfinde in diesem wahnsinnigen Wald, dann …« Er ballte die Faust. Schüttelte den Kopf, ließ die Hand sinken. »Nein. Ich werde meinen Rucksack holen, das Zelt und meine Kleider und dir den Rücken kehren. Deine Spiele sind mir zu gefährlich.«
Er trat jetzt leise auf. Er vermied die trockenen Äste auf dem Boden, er suchte das Moos, das seine Schritte dämpfte. Er lernte vom Wald. Noch immer hingen die letzten Reste des Nebels in der Luft. Er entdeckte Wildwechsel, aber keine Pfade. Er fand große, klobige Sandsteinfelsen mit seltsamen Figuren, aber keiner von ihnen war hoch genug, um ihm eine Aussicht auf die Umgebung zu gewähren. Die Sonne sank. Er versuchte, auf sie zuzugehen, um irgendeine Richtung beizubehalten.
Schließlich, an einem Hang, fand er unterhalb eines weiteren großen Felsens einen Platz, der aussah, als hätten andere Wanderer ihn festgetreten, um dort ein Picknick abzuhalten. Er setzte sich auf einen kleineren Gesteinsbrocken, um einen Moment auszuruhen. Jari hielt nach einem Zeichen von Zivilisation Ausschau, einem Mülleimer, einer Infotafel. Wie dankbar wäre er gewesen, ein Bonbonpapier zu finden! Er fand keines. Die Wanderer, die hier gerastet hatten, waren zu ordentlich gewesen.
Je länger er den Felsen betrachtete, desto mehr kam es ihm vor, als verberge auch der Felsen etwas. Loses Geröll bedeckte seine Vorderfläche. Jari stand auf und trat näher, schob einige der Steine beiseite – und blickte in tiefste Schwärze. Der muffige Geruch von lichtloser Erde und eisiger Kälte schlug ihm entgegen. Dies war nicht nur ein Stück Felsen, das aus dem Hang hervorsah. Dies war eine Höhle. Vielleicht hatte einmal ein Bär darin gehaust. Jari schüttelte sich. Er brauchte einen Schlafplatz, aber die Höhle war zu dunkel. Er würde, sagte er sich, in der Nähe bleiben, und wenn es nachts zu regnen begann, konnte er immer noch in die Höhle fliehen.
Als er sich wieder umdrehte, sah er, dass unter einem Stein etwas hervorlugte. Jari hievte den Stein beiseite. Ein kleines Bündel grauer Federn. Er schob auch den nächsten Stein beiseite – da waren noch mehr Federn. Die gleiche unscheinbare graue Färbung. Unter jedem einzelnen Stein lagen Federn. Manche wirkten, als lägen sie schon lange da, sie waren verklumpt von Erde, halb verrottet, manche schienen erst vor Kurzem hier platziert worden zu sein. Es war wie ein modernes Kunstwerk, dessen Bedeutung sich Jari entzog. Es war – was war es? Eine Botschaft? Ein Spiel? Ein Rätsel? Für wen?
Er rollte alle Steine wieder an ihre Plätze zurück, bemühte sich, nichts zu verändern. Es schien wichtig, dass nichts verändert wurde. Eine einzige Feder behielt er und steckte sie in die Tasche. Er dachte an all die Vögel, deren Federn dort unter den Steinen lagen. Es mussten viele sein. Dutzende.
Sie würden vermutlich nie mehr singen.
Still, still.
Und dann schlief er, auf der harten Erde vor der Höhle, tief, tief … und er träumte. Im Traum hörte er Jaschas Stimme.
»Mein Zeisig«, flüsterte sie. »Mein Tischlergeselle, mein Wanderer! Mein armer Junge. Ich habe lange nach dir gesucht …« Ihre Worte klangen alt, uralt, Märchenworte. Dabei war die Stimme, die sie sprach, nicht älter als er selbst.
»Als wir beim Bärenfelsen standen«, wisperte die geträumte Jascha, »da habe ich mir beinahe gewünscht, du würdest mir nicht folgen. Ich hätte dich nie berührt, dich nur in Erinnerung behalten, dein zerzaustes braunes Federhaar und deine Waldmoosaugen … Ich fange an zu verstehen, was die anderen gefühlt haben. Das letzte Mal ist vier Jahre her, weißt du … Ein Wilderer, ein Wünschelrutengänger – und ich war immer eine Wartende. Die Gefühle waren für die anderen, verstehst du? Ich bin kalt geblieben. Wie Stein. Aber der Dritte, der Wanderer, ist dabei, den Stein zu brechen. Das Eis zu tauen. Die Starre zu lösen. Der Dritte bist du.«
Sie fuhr ihm durchs Haar und berührte sacht seine Stirn, die voll blutiger Kratzer war. Der Schmerz ließ ihn daran zweifeln, dass er träumte.
»Ich wünschte«, flüsterte Jascha, »du hättest die Höhle nicht gefunden, nicht so früh. Du wirst Fragen stellen … und ich werde nicht antworten. Zeisig, mein Zeisig … Sie werden dir die Flügel stutzen. Sie haben schon begonnen. Du wirst nie mehr fliegen.«
Dann streiften ihre Lippen seine Wange.
»Jari! Jari,
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