Solange die Nachtigall singt
Heulen war bei offenem Fenster lauter, aber es kam nicht aus dem Wald. Es drang aus dem Haus, aus einem anderen offenen Fenster irgendwo unter dem seinen. Er lauschte mit seinem ganzen Körper hinaus in die Nacht … Und plötzlich wusste er, was er hörte.
Es war ein Kind.
Ein Kind von vielleicht sechs oder acht oder auch zehn Jahren. Jari sah es beinahe vor sich: wie es mit beiden Fäusten auf den Boden hämmerte, wie es die Ungerechtigkeit des Lebens in die Nacht hinausheulte, wütend und untröstlich. Und doch war es kein gewöhnliches Kinderweinen, es war nicht das Weinen über eine verlorene Puppe, eine verlorene Tüte Bonbons, ein verlorenes Spielzeug. In diesem Weinen steckte mehr; die Verzweiflung einer ganzen verlorenen Welt.
»Ein Kind?«, flüsterte er. »Jascha, ein Kind? In diesem Haus? Du hast nichts von einem Kind gesagt … Du hast so wenig gesagt, so vieles nicht gesagt …«
Und wenn er sie fragen würde, würde sie sagen, es gäbe kein Kind. Kein Kind, keine Nachtigall, kein Lied. Einen Moment lang erwog er, die Treppe hinunterzugehen, das richtige Zimmer zu suchen. Doch auf einmal schienen seine Beine unter ihm wegzusacken vor Müdigkeit. Er schaffte es gerade noch zurück zum Bett.
»Ich werde herausfinden, was das alles bedeutet«, wisperte er, halb im Schlaf schon. »Ich dachte, ich würde dich morgen verlassen, aber so schnell wirst du den Cizek nicht los. Du und deine Rätsel. Ich habe keine Angst. Ich bleibe, hörst du?«
Natürlich hörte sie ihn nicht. Sie lag weit entfernt irgendwo in ihrem eigenen Bett, und es gab zu viele Mauern zwischen ihnen. Die Angst, die er nicht hatte, hielt ihn davon ab, noch einmal aus dem Bett zu kriechen und das Fenster zu schließen, obwohl er fror. Hochstapler. Das Kind hatte aufgehört zu weinen. Nur das eisige Gewisper des Herbstwindes begleitete ihn zurück in den Schlaf.
Das Haus duftete nach frischem Brot, als er am Morgen in den Flur trat. Sein Kopf war noch immer schwer, und er schüttelte sich ein paarmal, schüttelte die Angst und die Zweifel der Dunkelheit ab, um zurückzufinden zur gewöhnlichen Klarheit seiner Gedanken. Er musste endlich damit beginnen, ein paar Dingen nachzugehen. Er musste herausfinden, wo das Kind sich befand und weshalb es weinte. Und er musste es jetzt tun, im hellen Licht des Tages. Sicher gab es eine vernünftige Erklärung.
Von unten drang eine Melodie zu ihm herauf, er folgte ihr die Treppen hinunter, an den Spiegeln vorbei. Die Türen im ersten Stockwerk glichen denen eines Hotelkorridors. Die Melodie wollte ihn weiterziehen, die nächste Treppe hinunter, doch er ging stattdessen den Flur entlang. Der Flur selbst war kahl, bis auf die allgegenwärtigen Spiegel an der Wand und einen kleinen Apothekerschrank mit verwirrend vielen Schubladen. Auf dem Apothekerschrank stand eine Vase mit Zweigen darin, aber hinter der Vase, Jari sah es deutlich, schimmelte die Wand. Die Schönheit des Hauses war nicht perfekt, nicht vollkommen. Er war sich nicht sicher, ob ihn diese Tatsache beruhigte oder beunruhigte. Als er weiterging, sah er genauer hin, sah in die Ecken hinauf und entdeckte hier und da Risse im Putz.
Und schließlich sah er lieber weg.
Die erste Tür, die er zu öffnen versuchte, war abgeschlossen. Auch die zweite war verschlossen, und es erstaunte ihn nicht, als er vergeblich an der Klinke der dritten rüttelte. Das ganze Stockwerk bestand aus verschlossenen Türen. Hinter einer von ihnen glaubte er ein Rascheln zu hören, vielleicht war es nur der Wind in einem alten Vorhang. Er blieb stehen und lauschte. Es raschelte noch einmal. Da hob er die Hand und klopfte an die Tür.
»Hier ist Jari Cizek«, sagte er laut. »Ist dort jemand?«
Jetzt war es still hinter der Tür, auf angespannte Weise still, als hielte jemand den Atem an.
»Hab keine Angst«, bat Jari. »Bist du es, der nachts weint?«
Keine Antwort. »Ich tue dir nichts. Ich bin nur …«
Wer bin ich denn?, dachte er. Wer bin ich wirklich? Ich bin der Lehrling meines Vaters, des alten Tischlermeisters. Der Sohn, für den die Mutter die Hemden stärkt und dem sie mit ihrem Dampfbügeleisen Höflichkeit und Anstand in die Knochen gebügelt hat. Ich bin der Freund des Gesellen Matti mit dem wirren langen Haar, der gerne ganze Nächte vertrinkt und über Frauen philosophiert. Mein ganzes Leben war ich der Lehrling, der Sohn, der Freund. Bin ich denn jetzt … ein Ich? Nein, nein. Jetzt bin ich ein Ackergaul für das schönste Mädchen der Welt.
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