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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Rinde des Baumes gelegt, um nicht auch noch den Baum zu verlieren, jenen letzten Anhaltspunkt. Schließlich, nach einer Ewigkeit, kniete er sich hin, um noch mehr Kastanien zu finden. Um sich mit irgendetwas die Zeit zu vertreiben, während er wartete. Irgendwann würde der Nebel sich auflösen. Irgendwann hätte Jascha genug von diesem dummen Spiel und würde zurückkehren.
    Er fand die Hülle der Kastanie wieder, auf die er getreten war, aber da waren keine anderen Kastanien. Und auf einmal kam ihm die Pelzigkeit falsch vor. Er tastete weiter, blind im Nebel. Das pelzige Etwas war länglich, es führte seine Finger weiter … zu einem größeren, pelzigen Etwas … Er zog die Hand zurück. Ein Tierkadaver. Er kniete vor einem Tierkadaver, einem toten Fuchs oder Hasen. Was er zunächst für eine Kastanie gehalten hatte, war das struppige Ende eines Schweifs gewesen, das Knacken unter seinen Füßen das Brechen toter Knochen. Er stand auf und wischte sich die zitternden Hände an der Hose ab.
    Die Rinde des Baumes, neben dem er stand, war die zerklüftete Rinde einer Eiche. Er war weit, weit fort von den Kastanienbäumen, weit fort von dem Ort, an dem Jascha vielleicht auf ihn wartete. Zu seinen Füßen lag ein totes Tier. Er wusste nicht, wer es getötet hatte. Oder wann. Es muss vor Kurzem geschehen sein, dachte Jari, sonst würde ich es riechen. Das Tier, das dieses Tier gerissen hatte, war vielleicht ganz nah. Und der Nebel, der die Geräusche von Schritten schluckte, wurde nicht lichter.

Wildbeere
    »Er war nicht da«, sagte das erste kleine Mädchen.
    »Nein«, sagte das zweite kleine Mädchen.
    »Vielleicht haben sie es uns nur nicht gesagt«, sagte das dritte kleine Mädchen.
    »Er war nicht da. Es interessiert ihn nicht, was mit uns geschieht. Er hat Wichtigeres zu tun. Er hatte immer Wichtigeres zu tun.«
    »Das ist nicht wahr!«, rief das dritte kleine Mädchen, und die anderen beiden machten »Schsch! Schsch!«, weil ihr Rufen so laut war in dem engen Raum. Weil sie Angst bekamen, dass sie zerdrückt werden könnten, wenn das Rufen zu viel Platz einnahm. Das Rufen – und die Angst.
    »Sie lassen ihn nicht kommen«, wisperte das dritte kleine Mädchen. »Er will kommen, aber sie lassen ihn nicht. So war es immer.«
    »Was wollen sie von ihm? Die beiden Männer?«
    »Es ist Krieg dort, wo er ist«, sagte das zweite kleine Mädchen, »ich weiß es, weil ich die Älteste bin. Sie schießen sich gegenseitig die Köpfe ein. Ich habe es gesehen, in meinen Träumen. Überall war Blut, Blut, das in die Erde sickert. Sie wollen etwas, was mit dem Krieg zu tun hat.«
    »Wollen sie, dass der Krieg aufhört?«
    »Nein. Sie wollen, dass er ihnen hilft, zu gewinnen.«
    »Was können sie denn gewinnen?«
    »Das Land.«
    »Wenn so viel Blut in die Erde fließt, wird sie wie ein Schwamm ganz nass von innen, und es wächst bestimmt nichts mehr. Keine Blumen und gar nichts. Dann ist das Land zu nichts gut.«
    »Das begreifen sie nicht«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Sie wollen trotzdem, dass er ihnen hilft, zu kämpfen. Und wenn er nicht tut, was sie sagen, dann wird dieser Boden hier auch ein Schwamm. Ganz nass von unserem Blut. Sie ziehen vielleicht Gummistiefel an, wenn sie herunterkommen, um uns zu töten.«
    »Das tun sie nicht!«, protestierte das dritte kleine Mädchen. »Beim letzten Mal sind sie auch nicht gekommen, um … um so etwas zu tun. Sie waren eigentlich nett. Der eine kann nur unsere Sprache nicht so gut. Wir mussten diesen Brief schreiben, und das war alles, oder? Ich schreibe gerne Briefe.«
    »Und davor sind sie gekommen, um uns zu sagen, dass wir woandershin müssen«, sagte das erste kleine Mädchen. »Es war unbequem mit den verbundenen Augen, aber sie haben uns nichts getan. Du, du machst uns nur Angst.«
    »Ja«, sagte das zweite kleine Mädchen entschlossen. »Das tue ich. Stellt euch das Schlimmste vor, was passieren kann. Wenn man sich das Schlimmste vorstellt, ist man immer froh, wenn etwas passiert, was nicht so schlimm ist. Stellt euch vor, sie tragen Gummistiefel bis zu den Hüften, wie die Angler, und sie schneiden euch die Ohren ab und alle Finger …«
    Auf der Treppe waren jetzt Schritte. Sie kamen herunter.
    »Du bist ja verrückt«, sagte das erste kleine Mädchen. »Die Älteste ist immer verrückt, wenn es drei sind.«
    »Woher weißt du das?«
    »Das sage ich dir nicht«, zischte das erste kleine Mädchen ärgerlich. »Und jetzt halte ich mir die Ohren zu, dann kannst

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