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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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roten Äpfel in ihrer Hand, ohne ihn zu pflücken.
    »Bald werden wir ernten.«
    »Wo warst du?«
    »Anderswo«, sagte sie. »Komm, Jari, mein Zeisig. Du hast genug getan für einen Vormittag. Ich habe den Acker gesehen. Ich hätte viermal so lange gebraucht. Lass uns etwas essen. Und danach zeige ich dir den Wald. Du hast den Wald noch nicht gesehen.«
    Jari lachte, während er ihr in die Küche folgte. »Den Wald? Ich sehe nichts als Wald, den ganzen Tag lang. Er ist überall, selbst auf den Ornamenten hier im Haus. Die Blätter auf den Borten der Stoffe, die Tiere …«
    Sie lachte ebenfalls und setzte ihm einen Teller Suppe vor – aus den Pilzen des Waldes. Später gab sie ihm Stiefel. Gegen die Brombeerranken, sagte sie, gegen die Brennnesseln, gegen die tausend Zähne und Klauen des Waldes. Die Stiefel passten, als wären sie für ihn gemacht. Sie waren aus Leder, kniehoch und grün gefärbt.
    »Warum besitzt du Männerstiefel?«, fragte er.
    Sie zuckte die Schultern. »Jetzt besitzt du sie. Für die Zeit, in der du hier bist.«
    Vielleicht, dachte er, haben die Stiefel ihrem Vater gehört. Offenbar wollte sie nicht über seinen Tod sprechen. Sie führte ihn zurück zu den Apfelbäumen, schob die Zweige an einer Stelle beiseite wie Vorhänge und deutete auf den Pfad, der dahinter begann. Es sah aus, als hätten Kinder dort einen geheimen Weg angelegt.
    »Warum gibt es keine Straße?«, fragte Jari. »Keinen Weg, der zum Haus führt?«
    Sie drehte sich um und legte einen Finger an die Lippen. »Leise, mein Zeisig«, flüsterte sie. »Die Luft im Wald trägt die Stimmen weit.«
    »Wer sollte uns hören?«
    »Das weiß man immer erst hinterher«, antwortete sie. »Der Wald ist schön, aber er ist auch gefährlich, verstehst du?«
    »Als wir hergekommen sind, hast du über den Bärenfelsen und über die Sturmhöhe gelacht.«
    »Habe ich das?«
    »Es war erst gestern. Erinnerst du dich nicht?«
    »Doch«, sagte sie, mit einem leisen Zögern in der Stimme. »Ich habe gelacht. Aber das, Jari, ist ein anderer Wald.«
    Ja, dies war ein anderer Wald. Jenseits dieser lebendigen grünen Blätterbrandung, die ans Haus heranschwappte, enthüllte er bei jedem Schritt mehr Geheimnisse, um gleichzeitig neue zu schaffen. Er zeigte Jari die Instrumente, die das ewige Rascheln von sich gaben: verstreut wachsende Espen mit winzigen, runden Blättern, golden wie die Klappen eines Blasinstruments. Er zeigte ihm die kleinen Vögel in den hohen Ästen, deren Melodien er gehört hatte, und die Blüten des Geißblatts, deren süßen Duft er gerochen hatte. Doch zwischen den Zweigen und bemoosten Wurzeln hingen Schatten, unergründlich und tief. Und keiner der Vögel verriet Jari, woher das nächtliche Weinen gekommen war.
    Jaschas Gestalt schwamm vor ihm in den Farben des Herbstes – dem Rot wilder Hagebutten, dem dunklen Violett reifer Holunderdolden, dem Pink und Orange der Pfaffenhütchen. In Birkengelb schwamm sie und in Buchenbraun, in Pappelsilber und Erlengold und Essigbaumkarmin – und zwischen allem lag das Tiefgrün der Fichten wie ein dunkler, voller Basston. Er dachte wieder an das Cello. Der Wald war ein Musikstück, komponiert aus und für sich selbst.
    »Siehst du den hellen Fleck dort vorne?«, fragte Jascha schließlich. »Das sind die Blätter meiner Esskastanienbäume. Es sind die einzigen Esskastanienbäume im ganzen Wald. Im Herbst schenken sie mir ihre Früchte.«
    Das Dickicht trat zurück, wie um ihnen Platz zu machen, und der Waldboden federte hier unter ihren Schritten wie ein Teppich. Sie gingen nebeneinander, grüne Stiefel und rote Stiefel, Jari und Jascha, Zeisig und Nachtigall. Doch während sie sich den Kastanienbäumen näherten, gebar der Wald Nebelschwaden, die langsam näher krochen. Die freien Räume zwischen den Bäumen begannen, sich mit milchigem Weiß zu füllen.
    Jascha schüttelte den Kopf. »Es wird wirklich Herbst. Die Nebel kommen jeden Abend früher.«
    »Es ist noch nicht einmal Abend«, sagte Jari.
    »Es ist immer Abend, wenn der Nebel kommt«, sagte Jascha. »Wir sollten uns nicht verlieren.«
    Sie griff nach seiner Hand, und er schloss seine Finger ganz sachte um ihre. Der Nebel wuchs zu einem weißen, zerrissenen Meer, und sie standen ganz allein darin, sehr nah beieinander. Sie roch nach den Früchten des Waldes, Holunder und Brombeeren.
    »Der Nebel ist immer hier«, flüsterte sie. »Im Sommer wie im Winter. Er kommt jeden Tag, so wie am Meer die Flut kommt, in manchen Monaten

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