Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
früher, in manchen später. Die Leute aus den Dörfern fürchten ihn. Sie haben Namen für den Wald: Nebeltann, Schattenwald, Dunkelforst.«
    »Gehen wir trotzdem weiter?«
    »Die Kastanienbäume existieren auch im Nebel«, flüsterte Jascha. »Es ist nicht mehr weit.«
    Jari sah nur Jascha; hinter ihr begann eine trübe, ungewisse Welt aus einzelnen Blättern in einem flutenden weißen Traum. Jascha aber war noch immer gekleidet in die Farben des Herbstes, durchwirkt mit dem Silber und Gold der Sonnenstrahlen. Sie hatte nach der Arbeit auf dem Hof noch einmal die Kleider gewechselt, sie schien sie andauernd zu wechseln, wie ein Chamäleon die Schattierung seiner Haut.
    Er schob mit der freien Hand vorsichtig ihren rechten Ärmel hoch. Sein Herz schlug rasch, als er mit dem Zeigefinger die Haut von ihrem Handgelenk in Richtung Ellenbogen entlangfuhr, langsam, langsam. Irgendwann würden seine Finger auf zerstörte Haut stoßen, auf schlecht verheiltes Gewebe … und er würde sie danach fragen, jetzt, hier, im Nebel, in dem sie sich so nah waren. Vielleicht war dies die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Eine bessere Gelegenheit noch als ein Kaminfeuer und ein Sofa. In dem Haus mit den Spiegeln war er sich die ganze Zeit über beobachtet vorgekommen.
    Er fand einen Ellenbogen, tastete weiter … nichts. Hatte er sich in der Seite geirrt? War es der linke Arm gewesen? Er spürte Jaschas Gänsehaut unter seinen Fingern, als er auch ihren anderen Ärmel hochschob. Und dann, ganz plötzlich, riss sie sich los und entglitt ihm mit einem hellen Lachen. »Was tust du? Du kitzelst mich.«
    Jari streckte die Hand aus, doch sie machte einen Satz zur Seite, tauchte unter seinen Händen weg, hinein in die Nebelfetzen. »Warte! Du hast selbst gesagt, wir dürfen uns nicht verlieren!«
    »Hast du dich denn schon verloren, mein Zeisig?«, fragte Jascha hinter ihm, und er wirbelte herum. Eben noch war sie vor ihm gewesen, er war sich sicher. Nein. Er war sich nicht sicher. Der Nebel war zu verwirrend. Wieder versuchte er, sie zu fassen, und wieder entwischte sie ihm.
    »Die Narbe an deinem Arm!«, rief Jari und setzte ihr nach, dem gedämpften Rascheln ihrer Schritte hinterher. »Sie war da, und nun finde ich sie nicht mehr …«
    »Narbe?«, fragte Jascha, zu seiner Rechten nun, wo er sie abermals nicht vermutet hatte. Sie kannte sich besser aus im Wald, sie konnte es sich leisten, ihn zu ärgern.
    Seine ausgestreckten Finger streiften diesmal ein Stück weiche Haut, und er wusste nicht zu sagen, ob es ihre Wange war, ein Oberarm oder gar eine bloße Brust … Hatte sie ihr Hemd ausgezogen? Das Laub unter seinen Füßen war weich. Ein schönes Bett für zwei, die sich endlich doch noch im Nebel finden, ein Lager, wo sie gänzlich ungestört sind, ein Himmelbett mit Vorhängen, gewebt aus weißem Dunst.
    Ein Bild tauchte in seinem Kopf auf: Matti und Annelie mit den violetten Haaren auf der alten Doppelmatratze in Mattis Wohnung, ihr wildes Haar ineinander verwoben, auf dem Boden neben der Matratze zwei Flaschen Bier, achtlos umgestoßen. Mattis Wohnungstür war nur angelehnt gewesen, genau wie die Tür zu seinem Schlafzimmer, und Jari hatte beide Türen sehr rasch wieder geschlossen. Damals war er neidisch gewesen. Jetzt lächelte er über die Erinnerung. Wie anders dies alles war! Wie viel besser.
    Aber wo war Jascha? Er drehte sich um die eigene Achse. Da war nichts als Nebel. Er spürte die Feuchtigkeit der winzigen Tropfen an der Wange wie einen Kuss. Etwas raschelte vor ihm, er stolperte vorwärts, weiter und weiter … blieb schließlich stehen. Jetzt hörte er nichts mehr. War er seinen eigenen Schritten gefolgt?
    »Jascha?«
    »Jari! Jari, komm her!« Ihre Stimme war jetzt erschreckend weit weg. Er lief wieder, hastete zwischen Bäumen hindurch, spürte, wie Äste seine Stirn, seine Hände und Arme zerkratzten.
    »Hör auf damit! Bleib stehen!« Da war Wut in seiner Stimme jetzt, er hörte es selbst.
    Und dann bekam er endlich einen schlanken Körper zu fassen. Er legte die Arme darum – und merkte, dass er einen Baum umarmte. Er fluchte. Unter seinen Füßen knirschte etwas. Er bückte sich, fühlte etwas Pelziges: Das musste eine Kastanie sein. Der Baum, den er umarmt hatte, war einer der Esskastanienbäume. Er war dort angekommen, wo Jascha ihn hatte hinführen wollen. Doch als er diesmal nach ihr rief, bekam er keine Antwort. Der Nebelwald blieb still.
    Jari stand sehr, sehr lange so, eine Hand auf die

Weitere Kostenlose Bücher